Je mehr Standards, desto besser – so denkt man vielleicht, wenn es um die Auswahl einer ECM-Anwendung geht. Bei einer so langfristigen und gewichtigen Entscheidung soll natürlich in keinem Fall einen Fehler gemacht werden. Was ist da leichter als sich auf alle technischen Standards und Normen zu beziehen und die Erfüllung beim Anbieter einzufordern? Tatsächlich sieht man immer wieder unsinnige Anforderungskataloge, die neben toten Standards, wie DMA oder WfMC auch eine GDPdU- und GoBS-Zertifizierung fordern.
Die Gründe, sich auf verabschiedete und überwachte Spezifikationen zurückzuziehen, sind verständlich. Standards machen es dem Anwender einfacher, Produkte auszuwählen und der Markt wird transparenter. Standards führen zu mehr Vergleichbarkeit von Produkte und der Preis gewinnt an Bedeutung gegenüber der Funktionalität. Auch kann die Austauschbarkeit von Komponenten erleichtert werden – zumindest theoretisch. Wer einmal TIF-Objekte von einem System auf ein anderes System migriert hat, stellt aber fest, dass es auch bei einem Standardformat noch Varianten gibt, die nicht mit jedem Produkt erfüllt werden (Bsp. Single-und Multipage-TIFs, verwendete Byteorder oder Kompression, unterstützte Tags). Auch liefern bspw. PDF/A-Validatoren erstaunlich unterschiedliche Ergebnisse bei der Prüfung von PDF/A-Dateien gemäß der ISO-Norm 19005.
Exkurs Norm / Standard:
Norm | Standard |
Erstellt oder angenommen durch eine anerkannte, mit Regelungsbefugnis ausgestattete Institution, welche die Normierung (DIN-Institut, ECMA, ISO etc.) als Kernfunktion wahrnimmt. Bsp.: DIN Norm, ISO Normen etc. | Kann von Interessenverbänden oder auch nur einem Unternehmen möglicherweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit (proprietär) entwickelt werden. Der Begriff Standard wird dann verwendet, wenn es sich im Laufe der Jahre durch die Praxis vieler Anwender und verschiedener Hersteller als technisch nützlich und richtig erwiesen hat. |
In der folgenden Übersicht sind einige Regelungen, Standards und Normen aufgeführt, die eine Relevanz im ECM-Umfeld besitzen:
Bereich | Beispiel |
Allgemeine Regelungen und Standards – Grundsätze ordnungsmäßiger DV-gestützter Buchhaltungssysteme (GoBS) |
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ECM-relevante Standards im Public Sector |
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Dateiformate |
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Formate für Metadaten |
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Schnittstellen- und Architekturstandards |
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Speichersysteme |
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Prozess-, Workflow-Standards |
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Bei der obigen Übersicht ist zu beachten, dass es einige nicht-technische Standards gibt, die in keinem Produkt implementiert und somit auch nicht getestet oder zertifiziert werden können.
Tote und lebende Standards
Stell’ Dir vor, es gibt einen Standard und keiner unterstützt ihn – oder nur einer! Einige Standards haben sich mangels Fortschreibung oder Produktunterstützung überlebt. DMA, WfMC oder ODMA zählen hierzu. Bei aller Standardisierung gehören eben doch auch unterstützende Produkte zu einem erfolgreichen Standard. Für den Standard SAP ArchiveLink gibt es ca. 130 Anbieter, die diese „Nicht-Norm“ unterstützen, für die Norm der 12-Zoll-WORM-Medien dagegen nur Sony. Die Güte einer Norm, wird also auch durch den unterstützenden Markt definiert.
Hoch im Kurs und in der Diskussion stehen momentan PDF/A für PDF-Dateiobjekte, MOREQ2 (Model Requirements for the Management of Electronic Records) als Anforderungskatalog für Records Management-Lösungen oder CMIS (Content Management Interoperability Services) – der Entwurf einer Protokoll-Spezifikation für die Kommunikation mit einer ECM-Anwendung.
PDF für die Langzeitarchivierung
PDF/A-1 ist eine Anwendungsvorschrift, wie das PDF-Format für die Langzeitarchivierung sicher eingesetzt werden kann. Es ist ein Regelwerk, das spezifiziert, welche PDF-Optionen erlaubt sind, um Inhalte geräteunabhängig immer gleich anzeigen zu können.
Nicht erlaubte Optionen sind bspw. aktive Inhalte wie Scripte oder auch Verschlüsselung auf Dokumentenebene. Zusätzlich werden „selbsttragende“ Objekte gefordert, so dass alle zur Anzeige erforderlichen Komponenten eingebettet sein müssen. Dies betrifft insbesondere die verwendeten Fonts, deren Einbettung bei PDF-Dateien eher unüblich ist. Erkennen kann ein Anwender ein PDF/A-Dokument von außen nicht – es sind hier entsprechende Prüfwerkzeuge erforderlich, die die Konformität zur Norm prüfen.
MoReq / MoReq2
MoReq (Model Requirements for the Management of Electronic Records) ist ein beispielhafter Anforderungskatalog für Records Management Systeme. Die Version 1 wurde im März 2001 erstellt und mit MoReq2 im Januar 2008 im Auftrag der Europäischen Kommission aktualisiert. Der Fokus von MoReq2 liegt auf der Archivierung unstrukturierter Informationen („A key feature of a record is, that it cannot be changed“) und beinhaltet bspw. keine typischen Funktionen für die Verwaltung lebender Dokumente, das Web Content Management oder die Portal-Integration.
MoReq2 beschreibt auch ein Zertifizierungsverfahren, so dass Anbieter ihre Produkte gemäß MoReq2 zertifizieren lassen können. Die Testszenarien sind sehr umfangreich (1.200 Seiten!), was auch daran liegt, dass hier versucht wird, die Erfüllung einer nicht technischen Spezifikation prüfbar zu machen. Der Anforderungskatalog ist aber technisch zu wenig konkret, um Aussagen über die Qualität der zertifizierten Produkte zu erlauben.
Trotzdem ist MoReq2 hilfreich: Nämlich als Vorlage für die eigene Projektarbeit. Ein ECM-Anwender kann den MoReq2-Anforderungskatalog als eine modellhafte Zusammenstellung von Anwendungsfunktionen verwenden und auf dieser Basis die eigenen Anforderungen prüfen. Die AIIM weist gezielt hin, dass man bitte nicht einfach den ganzen Katalog in die Ausschreibungsunterlagen kopieren soll.
MoReq2 wird insbesondere in Bundes- und Landesverwaltung sehr aufmerksam verfolgt. Allerdings gibt es bereits die ISO 15489 zur Schriftgutverwaltung mit weltweiter Verbreitung. Für Deutschland dürfte eine Abgrenzung zu DOMEA erforderlich werden, da auch an dieser Spezifikation weiter gearbeitet wird.
CMIS
Bei großen Unternehmen kommen immer öfter mehrere ECM-Systeme zum Einsatz. Für jedes dieser Systeme müssen eigene Schnittstellen implementiert und gepflegt werden. Miteinander kommunizieren können die Systeme in der Regel nicht. Hier setzen die
Content Management Interoperability Services (CMIS) an, um den Zugriff auf ECM-Systeme zu standardisieren.
Ähnliche Ansätze gab es bereits in der Vergangenheit bei DMA, WebDAV oder JSR 170/283. Letzteres ist eine Java-Spezifikation aus dem Umfeld von Web Content Management Systemen und wird aber z.B. nicht von Microsofts MOSS 2007 unterstützt. Bei der Entwicklung von CMIS sind die Voraussetzungen besser, da die Schwergewichte der DMS-Branche (EMC, Open Text, IBM) an der Spezifikation beteiligt sind. Hinzu kommen SAP, Oracle und Microsoft.
Zielsetzung der CMIS ist die Definition von technischen Services für die leichtere Anwendungsintegration beim Zugriff auf ein ECM-System und damit verbunden auch eine leichtere Migration und Integration. Hierbei setzt die Spezifikation nicht auf API-Ebene an, sondern auf der Protokollschicht, womit eine Unabhängigkeit von Entwicklungsumgebungen und Programmiersprachen erreicht werden soll.
Der Veröffentlichung der ersten Draft-Version 0.5 erfolgte im September 2008. Über die Umsetzung in den ECM-Produkten kann noch spekuliert werden. Das Open-Source-Produkt Alfresco hat bereits eine Referenz-Implementierung vorgestellt. Auch soll die nächste SharePoint-Version die Services unterstützen.
Die Voraussetzung, für diese Spezifikation zu einem weit verbreiteten Standard zu werden, ist nicht schlecht. Entscheidend dürfte aber auch hier sein, wann der finale Standard verabschiedet wird, und dass die Anwender eine entsprechend standardisierte Funktionalität einfordern, wenn diese erforderlich ist.
Fazit
Lange Aufbewahrungsfristen erfordern stabile und gleichzeitig flexible Umgebungen. ECM-Systeme sind stark integrierte Systeme, für die solide Schnittstellen gefordert werden. Auch die Migrationsfähigkeit auf ein neues Produkt muss gewährleistet sein. Standards und Normen sollen hier helfen, Investitionen zu sichern und Komplexität der Umgebung zu reduzieren. Allerdings kann die Forderung nach Standards nicht die Analyse der eigenen Anforderungen ersetzen.
Es gibt verbreitete und weniger verbreitete Standards. Manche leben und werden fortgeschrieben, andere existieren nur noch auf dem Papier. Eine Bewertung für Anwender ist nicht immer einfach. Daher leistet der Verband der DMS-Hersteller (VOI e.V.) hier Hilfestellung. Mit dem „Leitfaden Standards und Normen im Umfeld ECM“ sind auf ca. 200 Seiten viele relevante Standards und Normen mit ECM-Bezug dargestellt inkl. einer Bewertung über dessen Relevanz. Das Werk liefert einen ersten Überblick und kann gut als Basis für weitere Detaillierungen dienen.