Autoren: Volker Halstenbach, Bernhard Zöller
In vielen Projekten der öffentlichen Verwaltung besteht im Kontext des Aktenplans eine Verwirrung über die Nutzung von Sachakten vs. der Nutzung von Fallakten[1]. Dabei verfolgen beide Ansätze dasselbe Ziel:
Unterlagen, die zu einem bestimmten Sachverhalt gehören, werden gemeinsam in einer Akte verwaltet.
Kontroverse Unterscheidung zwischen Sachakte und Fallakte
Von da ab gehen die Kontroversen aber los. Dabei stammt die Unterscheidung der behördlichen Aktenführung in Sach- und Fallakten aus der Papierwelt und wird in Verwaltungen bereits seit Jahrhunderten gelebt.
Mit Einführung der elektronischen Aktenführung gewinnt diese Unterscheidung jedoch an Bedeutung und Organisationen tun sich häufig schwer damit, ihre künftig digitale Aktenführung der einen oder der anderen Aktenart zuzuordnen. Die Festlegung ist aber bedeutend und muss vor der Nutzung stattfinden, um spätere Datenmigrationen von Fall- in Sachakten und umgekehrt zu vermeiden.
Eine Sachakte ist gem. Organisationskonzept „eine Akte, die nach sachlichen oder inhaltlichen Kriterien aufgebaut ist und alle Vorgänge sowie Dokumente nach einem sachlichen Merkmal gliedert“. Als Beispiele werden teilstrukturierte Einsatzfelder genannt wie Bearbeitungsabläufe in Ministerialverwaltungen, IT-Planung, Planung und Durchführung von Baumaßnahmen etc.
Im Unterschied dazu sind Fallakten gem. Organisationskonzept „verfahrensgleiche, einheitlich aufgebaute Akten, die sich nur an einem formalen Merkmal unterscheiden, beispielsweise Anfangsbuchstaben des Familiennamens der Antragsteller“. Als Beispiel werden strukturierte, repetitive Bußgeld- und Bafög-Antragsverfahren genannt.
Damit beschreibt das Organisationskonzept selbst keine technische Differenzierung der Aktenarten, die Unterschiede sind nur schwerlich erkennbar – in gängigen DMS-basierten Aktenplan-Lösungen unterscheiden sich diese Aktenarten jedoch gerade auf der technischen Ebene regelmäßig deutlich.
Sachakten und Fallakten in DMS-Lösungen
Zumeist bieten DMS-basierte Aktenplan-Lösungen lediglich eine einzige Sachaktendefinition. Dies bedeutet, dass über den gesamten Aktenplan hinweg alle Sachakten ein einheitliches Set an fachlichen (und technischen) Attributen zur Verfügung stellen, unabhängig davon, in welchem Fachgebiet und Aktenplanzweig die einzelne Sachakte verortet ist. Hierdurch fehlen in Sachakten-Implementierungen regelmäßig die Fachgebiet-spezifischen Ablage- und Suchattribute, und Sachakten und ihre Inhalte sind lediglich über den Titel der Sachakte oder des Dokuments kombiniert mit dem Aktenplan-Zeichen des Aktenplan-Zweigs auffindbar, dem sie zugeordnet sind. Das Aktenplan-Zeichen wiederum repräsentiert das Fachgebiet, die Aufgabe oder das Produkt, das der Aktenführung zugrunde liegt, je nachdem, ob der Aktenplan gemäß der Aufbauorganisation, aufgabenorientiert oder produktorientiert gestaltet ist.
Der Vorteil einer Sachaktenlösung liegt jedoch gerade in ihrer Fach-Neutralität: Der generalistische Ansatz der Sachakte beschränkt ihr Einsatzgebiet nicht auf bestimmte Fachgebiete – die Einsatzmöglichkeit der Sachaktenlösung ist vornehmlich durch ihre Praktikabilität im konkreten Einsatzgebiet beschränkt, nicht jedoch bezüglich ihrer sonstigen Eigenschaften. Zugleich beherbergt eine Sachaktenlösung bei weitem nicht nur Akten- und Dokumentenablagestrukturen; vielmehr bietet sie häufig ein integriertes Berechtigungskonzept, einfache Beteiligungsmöglichkeiten und ein praktikables Verfügungswesen.
Demgegenüber bieten DMS-Lösungen die Möglichkeit, Fallakten individuell auf ganz spezielle Belange der Fachbereiche zuzuschneiden. Für die Implementierung von Fallakten sind ausschließlich die funktionalen Grenzen des gewählten DMS zu berücksichtigen: konzeptionell sind für Fallakten nahezu keine Vorgaben aus dem Organisationskonzept ermittelbar. Selbst die für Sachakten im Organisationskonzept geforderte dreistufige, hierarchische Ablagestruktur bestehend aus Akte, Vorgang und Dokument – in der Praxis übrigens häufig für Strukturierungszwecke gerade in Sachakten unzureichend -, ist für die Fallakte gem. Organisationskonzept elektronische Verwaltungsarbeit Baustein E-Akte aufgeweicht: „So kann es bei Fallakten aufgrund der teilweise begrenzten Menge der in der Bearbeitung entstehenden Dokumente im Sinne der Handhabbarkeit vorteilhaft sein, eine zweistufige Hierarchie zu wählen.“
In der Praxis häufig unzureichend: Strukturierung in Akte -> Vorgang -> Dokument
Quelle: BMI, Organisationskonzept elektronische Verwaltungsarbeit
Fallaktenlösungen in der Praxis
In der Praxis finden wir – abhängig von den technischen Möglichkeiten der eingesetzten DMS-Lösungen – ganz unterschiedliche Fallakten-Lösungen: Einerseits solche, die eine viel tiefere innere Struktur aufweisen, als das Organisationskonzept für Sachakten vorsieht, also Strukturen mit durchaus mehr als drei Stufen– andererseits finden wir auch das andere Extrem, also „flache“ Ablagen, also die „freie“ Verwaltung von Dokumenten ohne jegliche Aktenzuordnung; letztere insbesondere in solchen Umgebungen, in denen die Verwaltung der Dokumente gar nicht über das DMS, sondern über eine Fachanwendung erfolgt. Je nach Gestaltung der DMS-Schnittstelle kann die Fachanwendung die in ihr verwalteten Dokumente im DMS versteckt ablegen (alle Zugriffe erfolgen über die Fachanwendung), mit einfachen Suchattributen versehen (z.B. DMS-Suche über die Rechnungsnummer ermöglichen) ablegen oder die Aktenstrukturen und -Bestände zwischen Fachanwendung und DMS synchronisieren.
Im DMS sind die über Fachanwendungen verwalteten Dokumentenbestände häufig nur noch mit Interpretationsfreiheit dem Konzept der „Fallakte“ zuzuordnen – tatsächlich werden diese Bestände im DMS regelmäßig ohne Aktenzuordnung abgelegt und sind erst im Zusammenspiel mit der Fachanwendung zugreifbar. Mit steigendem Funktionsumfang von Fachanwendungen in der öffentlichen Verwaltung ist auch eine steigende Anzahl von auf diese Weise verwaltete Unterlagen zu beobachten. Im Organisationskonzept elektronische Verwaltungsarbeit ist diese Art der Akten- bzw. Unterlagenführung dennoch nicht berücksichtigt.
Was beachten bei der DMS-Auswahl und -Einführung?
Bei der DMS-Auswahl sind daher auch in der öffentlichen Verwaltung nicht nur die Aktenplan-Funktionen und Sachakten-Möglichkeiten relevant, sondern gerade auch die „üblichen“ Akten- und Dokumentenverwaltungsfunktionen des DMS – inklusive natürlich der Schnittstellen zu Fachverfahren.
Die hauseigenen Anforderungen und die dazu passenden Fragestellungen an die Bieter müssen bereits zum Zeitpunkt der Ausschreibungsgestaltung und somit vor Beginn des eigentlichen Ausschreibungsverfahrens klar formuliert sein. Dies stellt eine echte Herausforderung dar, denn die benötigten Funktionen sind durchaus komplex und die im Markt vorhandenen Möglichkeiten und Einschränkungen kaum transparent.
Konzeptionell kann man die Sachaktenlösung in DMS-Umgebungen als Minimalstandard für eine digitale Aktenführung ansehen. Organisationen sollten beim Roll-Out ihrer Aktenplan-Lösung für jeden Aktenbestand zumindest kurz prüfen, ob die Sachaktenlösung nicht bereits ausreicht: Während die Sachakte in jeder Kundenumgebung eh einmal für alle umgesetzt wird, muss die Fallakte für jeden Aktenbestand separat geplant, konzipiert, umgesetzt, getestet, in Betrieb genommen und gepflegt werden. Eine typische DMS-Umgebung einer Aktenplan getriebenen Verwaltung enthält somit in der Regel exakt eine Sachaktenlösung und zusätzlich viele einzelne Fallaktenlösungen. Dies hat auch Auswirkung auf die Schulung und die Betreuung der Anwender, die beide für jede Fallakte individuell gestaltet sein müssen.
Wann ist die Sachakte im DMS zu nutzen, wann die Fallakte?
Die Frage, für welche Fachbereichsakten eine Sachakte und für welche eine Fallakte im DMS zu nutzen ist, lässt sich leider nicht einfach beantworten.
Die folgende Tabelle enthält eine Auflistung von Auswahlhilfen, welche Aktenart für die Verwaltung der eigenen Unterlagen eingesetzt werden sollte:
Tabell1
Was | Eher Sachakte, wenn … | Eher Fallakte, wenn … |
Anzahl Akten im Aufgabengebiet | … „eher gering“– es gibt keinen eindeutigen Grenzwert; grob könnte zwischen einer Maximalzahl von ca. 500 – 2.000 Akten eine solche Grenze gezogen werden. | … eher „hoch“ ausfällt – kein eindeutiger Grenzwert vorhanden, siehe Ausführungen zu Sachakte. |
Suche nach Akten und Dokumenten | … die Suche vornehmlich über den Akten-/ Dokumententitel ausreichend ist. | … die Suche über weitere fachliche Attribute möglich sein muss (z.B. KFZ-Kennzeichen, Fall-Nr., Name, Belegnummer, Status). |
Planung und Einrichtung | … Planung und Einrichtung mit geringstmöglichem Aufwand erfolgen soll. | … die passende Ablagestruktur bereitzustellen wichtiger ist, als den Planungs- und Einrichtungsaufwand möglichst gering zu halten. |
Strukturierungstiefe innerhalb der Akte | … die Strukturierung mit den 3 Stufen (Akte -> Vorgang -> Dokument) passend ist. | … die Strukturierung ist mit Akte -> Vorgang -> Dokument nicht zielführend ist (zu gering oder zu stark strukturiert). |
Einbindung / Darstellung der Akte in den Aktenplan | … die Einbindung in den Aktenplan unverzichtbar ist. | … die Einbindung in den Aktenplan verzichtbar oder ungewollt ist. |
Fachanwendungsintegration | … Fachanwendungsintegration nicht vorgesehen ist. | … die Fachanwendungsintegration benötigt wird, z.B. um Akten automatisch im DMS anzulegen, sobald in der Fachanwendung ein neuer Fall angelegt wird. |
Das zuletzt aufgeführte Kriterium „Fachanwendungsintegration“ ist hierbei wahrscheinlich das ausschlaggebendste: Ist die Fachanwendungsintegration unverzichtbar, wird die Sachaktenlösung für den Fachbereich nicht ausreichen. Die übrigen Kriterien sind eher als „Fingerzeig“ zu verstehen und verdeutlichen bestenfalls die angesprochene Herausforderung, die richtige Aktenart für die Unterlagenart zu wählen.
Empfehlungen:
- Nutzen Sie Sachakten da, wo es passt, d.h. wo die mangelnde Strukturierungsfreiheit kein Problem ist, weil keine aufwendige Anpassung notwendig ist und die verschiedenen Bereiche daher schneller mit einer E-Akten-Lösung ausgestattet werden können.
- Achten Sie bei der DMS-Auswahl auf E-Akten-Modellierungswerkzeuge, die Ihnen die Gestaltung von Bereichs-spezifischen Fallaktenstrukturen ohne Programmierung erlauben.
- Achten Sie bei der DMS-Auswahl darauf, dass Integrationen zu eingesetzten Fachverfahren verfügbar sind. Die Schnittstellen sollen das DMS entweder als einfaches Archiv-Repository (dann stellt das Fachverfahren das Ordnungssystem) nutzen oder als E-Akten-Lösung, die von der Fachanwendung aufgerufen und deren Akten über die Fachanwendung verwaltet wird.
[1] Eine grundlegende Definition von Aktenplan und Abgrenzung von Fall- zu Sachakten findet sich im Organisationskonzept elektronische Verwaltungsarbeit. Link: https://www.verwaltung-innovativ.de/SharedDocs/Publikationen/Organisation/grundlagen_und_bedarfsanalyse.pdf?__blob=publicationFile&v=1