„Ich sehe absolut keinen Grund, warum sich jemand zuhause einen Computer hinstellen sollte“ Kenneth Olsen, Gründer von DEC, 1977
Es gibt viele Prognosen aus der IT-Industrie wie diese, die grandios daneben lagen. Aber wenige Vorhersagen sind so einfach zu verstehen, von vielen so erwünscht und dann (scheinbar) doch so weit weg von der Realität wie das „papierlose Büro“.
Historie
Verfolgt man die Historie zu diesem Themenklassiker der ECM-Branche, findet man eine erstmalige Erwähnung des „paperless office“ in der Business Week vom 30. Juni 1975. In diesem wird George E. Pake, damaliger Leiter des Xerox PARC, zitiert:
Quelle: Business Week, 30. Juni 1975
Um einzuschätzen, wie lange das Jahr 1975 her ist: Der Sony Walkman und die CD wurden erst 5 Jahre später erfunden, Helmut Schmidt war Bundeskanzler, 300 Baud Modems mussten beim FTZ (Fernmeldetechnisches Zentralamt) zertifiziert sein, sonst machte man sich bei deren Verwendung strafbar. Die Vorhersage, wie wir im Jahre 1995 im Büro arbeiten würden, war also gar nicht so schlecht für diesen langen Zeitraum. In den Jahren danach wurden zahlreiche Artikel zu diesem sehr griffigen und von Xerox inspirierten Begriff veröffentlicht. Was danach kam, kennen wir. Mitte der 80er Jahre: Apple und Microsoft mit grafischen Benutzeroberflächen, Abteilungslösungen zur Archivierung von Eingangsdokumenten, ab Mitte der 90er die Verbreitung des Internets und Browseranwendungen, seit 2001 Windows Tablets, ab 2007 Smartphones (allen voran Apples iPhone) mit Gestenbedienung, und seit 2010 iOS und Android-Tablets. Alle diese Technologien sind wichtige Puzzleteile in einem Zielbild, in dem eigentlich kein Papier mehr notwendig ist.
Aktueller Status: Papierlose Kernprozesse, papierarme Abteilungen
Aktueller Status nach über 35 Jahren Missionierung durch die IT-Industrie: In vielen Unternehmen und Organisationen gehören Papierberge noch zur täglichen Praxis. Schaut man genauer hin, dann zeigt sich ein differenzierteres Bild: Tausende Archiv-, DMS- und ECM-Lösungen sind in kundennahen oder in administrativen Bereichen installiert. Viele Kernprozesse werden bereits papierlos abgewickelt und viele Abteilungen sind deutlich papierärmer als früher. Aufgrund des Preisverfalls der meisten Komponenten (Speicher, PCs, Server etc.) sind solche Lösungen auch für kleinere und mittelständische Unternehmen erschwinglich geworden. Kein (uns bekannter) Anwender will wieder zurück zu Papier und Mikrofilm, die Vorteile sind einleuchtend und dauerhaft.
Neue Rahmenbedingungen beschleunigen die Digitalisierung der Arbeitswelt
Nicht nur die neuen technologischen Möglichkeiten und das sich ständig verbessernde Preis-/Leistungsverhältnis wichtiger IT-Komponenten, auch andere Faktoren verstärken die Vorteile von ECM-Lösungen. Der Wunsch zur flexibleren Gestaltung nicht nur von Arbeitszeiten, sondern auch von Arbeitsorten lässt sich in papierbehafteten Prozessen nur sehr begrenzt umsetzen. Die standortunabhängige Verteilung von Arbeit, der Wunsch von jedem Standort und zu jeder Zeit auf Unterlagen zugreifen zu können, das Auslagern von Teilprozessen an Externe: alle diese Anforderungen lassen sich nur in elektronischen Prozessen umsetzen.
Neue Client-Technologien erschließen neue Zielgruppen
Eine weitgehend unerschlossene Gruppe von Anwendern, die bisher weitgehend nicht mit ECM-Lösungen ausgestattet wurden, sind die vielen Ab-und-zu-Anwender, vor allem Knowledge Worker und Führungskräfte, die nur situativ und nicht ständig mit diesen Lösungen arbeiten müssen. Mit der Verbreitung performanter und attraktiver, intuitiv nutzbarer Web 2.0-Anwendungen, vor allem aber mit der Verbreitung neuer Bedienkonzepte (Stichwort: Gestensteuerung bei Tablets) sind auch diese Anwendergruppen besser ansprechbar als mit den lernaufwendigen, klassischen Client-Umgebungen, die man bisher kannte.
Neue Bürokonzepte: keine physischen Ablagen
Selten hat man die Möglichkeit, auf der grünen Wiese zu planen. Aber wenn sich die Möglichkeit ergibt – zum Beispiel bei Umzügen, Neubauplanung – dann überdenken manche Anwender auch die bisherigen Arbeitsplatzkonzepte und loten neue Bürokonzepte aus: Warum noch Raum für Akten einplanen, wenn man diese digital vorhält? Warum noch fest zugeordnete Arbeitsplätze für jeden Mitarbeiter, wenn ein bestimmter Prozentsatz sich sowieso nicht am Standort aufhält? Lastspitzen könnten an anderen Standorten aufgefangen werden, wo die Kapazitäten verfügbar sind. Nicht der Wohnort bestimmt die Zuordnung zu einem Team, sondern fachliche Eignung und Auslastung. Warum noch dezentraler Posteingang, wenn man bei sich (oder einem Dienstleister) den kompletten Posteingang zentralisieren kann? Warum noch Dokumente eigenhändig unterschreiben (und damit wieder Papier erzwingen), wenn der Zweck (die glaubwürdige Authentifizierung der zeichnenden Person) durch System-gestützte Verfahren (wie in jeder besseren ERP-Lösung) auch ohne die unbeliebte qualifizierte elektronische Signatur ausreichend sicher vorgenommen werden kann?
Die im privaten Alltag gemachte Erfahrung des „Always-Online“ soll auch im Arbeitsleben möglich sein: ohne Öffnungszeiten des Zentralarchivs, Verfügbarkeitszeiten von Innendienst und Registratur berücksichtigen zu müssen. In letzter Konsequenz bedeutet das auch: Es wird kein oder nur wenig Platz für Abteilungsablagen vorgesehen und hierdurch Kosten für umbauten „toten“ Raum gespart, es werden flexiblere Teamzusammensetzungen und Prozesse eingerichtet und der Arbeitsplatz wird zeitgemäß mit moderner Ausstattung versehen, um nur einige Vorteile zu nennen.
Consumer Markt ist Innovationstreiber
Früher war es üblich, dass die „teuren“ Komponenten der IT zuerst in Unternehmen verfügbar waren, und erst später, mit dem zeitlich verzögerten Preisverfall, in den Haushalt einzogen. Das hat sich seit Jahren umgekehrt. Die neuen attraktiven „Gadgets“ wie SmartPhones, Tablets, Soziale Netzwerke verbreiten sich zuerst im Consumer Markt und sorgen für Vor-Bildung im Umgang mit diesen Werkzeugen. Gleichzeitig entsteht zunehmend eine höhere Erwartungshaltung an die Modernität des Arbeitsplatzes. Wer privat nur noch per Facebook und E-Mail kommuniziert, seine Dokumente auf der Festplatte, Google oder Dropbox hat, der ist schwer zu motivieren, wenn er dicke Akten wälzen muss und E-Mail ausdrucken und als Papier ablegen soll. Der ZDA-Stempel („zu den Akten“) wird hier – zu Recht – als Relikt empfunden. Die neue Mitarbeitergeneration schreibt schneller mit Tastatur als mit der Hand, was man vielleicht bedauern mag, aber hier wirkt die alte Weisheit nicht mehr, dass man den Leuten erstmal den Umgang mit den neuen Werkzeugen beibringen muss. Es ist doch mittlerweile manchmal umgekehrt: Mitarbeiter verweigern zunehmend den Umgang mit den alten Werkzeugen, die zu gar keiner Erfahrung aus dem sonstigen Alltag mehr passen wollen. Mit anderen Worten: Der gute alte Leitz-Ordner ist nicht per Drag&Drop verschiebbar, passt nicht auf den USB-Stick, man kann keine Änderungsabos per E-Mail einrichten, Dokumente haben keine Like-Buttons, man kann sie im Team nicht kommentieren und so weiter. Old School Akte. In einem Unternehmen mit gewachsenen Strukturen und unterschiedlicher IT-Affinität der Belegschaft müssen häufig beide Welten unter einen Hut gebracht werden: die alten Verfahrensweisen und Mitarbeiter, die mit diesen gut umgehen können und die neuen Alternativen. Das zwingt manchmal zu Kompromissen, die aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht nicht immer optimal sind. Aber der Trend zu papierlosen Prozessen ist unumkehrbar.
ECM = DMS und Collaboration = Basis für papierloses Büro
Mit den klassischen Archiv- und DMS-Funktionen sind viele Benutzergruppen, insbesondere die sogenannten „Knowledge Worker“, und Funktionsanforderungen nicht adressierbar. Zur Unterstützung deren eher projektorientierten Arbeitsweisen werden zunehmend sogenannte „Collaboration“-Lösungen angeboten. Umgekehrt weisen viele moderne Collaboration-Plattformen dringend benötigte Funktionen zur hochvolumigen Archivierung, Belegverknüpfung mit den vorhandenen Fachanwendungen, DMS- und Aktenfunktionen, Fähigkeit zur Implementierung transaktionsorientierter Workflow-Umgebungen nicht auf. Beide Welten – klassische Archiv-/DMS-Lösungen und Collaboration-Lösungen – sind aber notwendig, um die ECM-Anforderungen einer Organisation sowohl bereichsübergreifend als auch für die unterschiedlichen Arbeitsplatztypen (Sachbearbeiter, Fach- und Führungskräfte) abdecken zu können. Derzeit sehen wir daher in vielen Projekten im ECM-Zielbild ein integriertes Nebeneinander einer DMS-Säule und einer Collaboration-Säule und weniger die eine einzige Säule in der ECM-Strategie, die beide Anforderungswelten abdecken kann. Die Gefahr der 1-Säulen-ECM-Strategie ist, dass man sich eine Plattform aussucht, die dann für bestimmte Einsatzfelder deutlich weniger geeignet ist. Die Lücken müssen dann zu Lasten des Budgets oder der Mitarbeiterakzeptanz geschlossen werden, was immer nur teilweise gelingen kann und entsprechende Papierinseln zurück lässt. Neben der Verfügbarkeit der richtigen technologischen Puzzleteile ist es notwendig, dass die Anwender die richtige ECM-Strategie als Orientierungsrahmen für die unterschiedlichen Anforderungen der Bereiche und Prozesse im Unternehmen entwickeln.
ECM-Strategie „Büro 2020“
Wir werden auch in Zukunft nicht das zu 100% papierlose Büro sehen, weil dies betriebswirtschaftlich unsinnig wäre. Betriebswirte nennen das steigende Grenzkosten. Irgendwann macht es keinen Sinn mehr jedes Stück Papier digitalisieren zu wollen, wenn der Nutzen die dafür entstehenden Kosten nicht überwiegt. Und nur um Papier geht es schon lange nicht mehr. Sehr viel sinnvoller wäre, sich darüber Gedanken zu machen, wie Mitarbeiter und externe Nutzer in den verschiedenen Arbeitsplatztypen (Sachbearbeiter, Unterstützungsdienste, Fach- und Führungskräfte) in den verschiedenen Bereichen und Prozessen in Zukunft (Stichwort Büro 2020) arbeiten sollen und wie Informationen in Form von Dokumenten und Unterlagen bereit zu stellen sind. Hierbei werden die heutigen Abläufe der geschäftsrelevanten (d.h. marktnahen und/oder kostenkritischen oder rechtlich relevanten) Content-Prozesse vor dem Hintergrund neuer ECM-Technologien auf den Prüfstand gestellt. Wesentliche Aspekte dieser ECM-Strategie sind:
- Unternehmensziele: Welche Strukturveränderungen sind zu berücksichtigen, wie zum Beispiel andere Standorte, das Auslagern von Prozessen, virtuelle Bürokonzepte, etc.
- Welche rechtlichen Rahmenbedingungen für national und international operierenden Bereich sind zu berücksichtigen?
- Marktverfügbarkeiten: Mit welchen am Markt verfügbaren und zu betriebswirtschaftlich sinnvollen Bedingungen lassen sich die Anforderungen umsetzen?
- IT-Architektur: Die Verfahren und Komponenten müssen auch dauerhaft betreibbar sein. Das funktioniert nur, wenn sie von der IT verstanden und betrieben werden können.
Wenn dann immer noch ein paar Papierinseln übrig bleiben, wären wir auf dem Weg zum papierlosen Büro trotzdem ein Stück vorangekommen.