Das Staunen ist der Anfang der Erkenntnis. So staunen häufig die Projektbeteiligten, wenn die Rückläuferunterlagen einer ECM-Ausschreibung gesichtet und bewertet werden. Jetzt wird vielen Anwendern erst bewusst, wie stark sich ECM-Systeme funktional und technisch voneinander unterscheiden.
Offensichtlich sind doch nicht alle ECM-Systeme gleich und dieses gilt natürlich auch für die häufig in ECM-Lösungen integrierten Postkorb- und Workflowmodule und deren Funktionalitäten (Siehe hierzu auch die aktuell von Zöller & Partner erarbeitete und vom VOI im Oktober 2010 veröffentlichte DMS-Marktübersicht – Dokumenten-Management-Systeme – Hersteller und Produkte). Dieses ist wichtig zu wissen, wenn es um die Einführung einer ganzheitlichen ECM-Lösung in einem Unternehmen bzw. in einer Verwaltung geht. Erfahrungsgemäß sind Postkorb-/Workflow-Projekte weniger gut als erste Einführungsprojekte einer neuen, unternehmensweiten ECM-Lösung geeignet, stellen aber aus strategischer Unternehmenssicht diejenigen Projekte mit sehr hohen Nutzenpotentialen dar. Warum sind bei der Einführung einer neuen ECM-Lösung diese Postkorb-/Workflow-Projekte nicht unbedingt als Pilotprojekte geeignet? Das zeigt in der Regel die Praxis selbst. Workflow-/Postkorb-Projekte sind typischerweise um den Faktor 2 bis 5 teurer als klassische Archivprojekte, also Projekte mit späten Erfassungsszenarien. Wesentliche Kostentreiber derartiger Projekte sind die:
- höheren Analyse- und Implementierungsaufwendungen
- höheren internen Aufwendungen zur Umstellung der Ablauforganisation
- höheren Trainings- und Supportaufwendungen für Endbenutzer
Ist eine ECM-Lösung allerdings bereits länger in einem Unternehmen bzw. einer Verwaltung erfolgreich etabliert, so ist der Wechsel von einer klassischen elektronischen Archiv- bzw. Aktenablage hin zu einer frühen Dokumentenerfassung mit Postkorb-Workflowlösung durchaus sinnvoll und sehr nutzbringend. Vor allem, wenn es sich um Prozesse handelt, die eine hohe Repetition der Abläufe (Frequenz gleichartiger Vorgänge) beinhalten oder eine „systemgeführte“ Fall- bzw. Sachbearbeitung stattfinden soll.
Bei der Umsetzung von erfolgreichen Postkorb-/Workflow-Lösungen hat sich in der Praxis daher eine zweistufige ECM-Einführungsstrategie bewährt.
Wesentlicher Vorteil einer solchen Einführungsstrategie von neuen ECM-Lösungen sind eine bessere Einbindung aller Projektbeteiligten in die Konzeption einer solchen Postkorb-/Workflow-Lösung. Vor allem die Berücksichtigung der Anwender ist von enormem Vorteil, da ja in der Regel der organisatorische „Ist-Zustand“ der Sachbearbeitung aufgehoben und durch automatisierte Prozessabläufe ersetzt wird. Außerdem können diese häufig nicht nur organisatorisch, sondern auch technisch komplexen Postkorb-Workflow-Lösungen schrittweise – also kontrollierbar – eingeführt werden.
Aber worin unterscheiden sich denn nun die Postkorb-Workflow-Lösungen der am Markt befindlichen ECM-Anbieter im Wesentlichen? Die Antwort lautet: In ihrem Verfahrensmodell bzw. ihrem Vorgehensparadigma, welches eine Klassifizierung dieser Postkorb-/Workflow-Systeme zulässt und direkte Auswirkungen auf die verfügbaren funktionalen und technischen Eigenschaften eines solchen Systems besitzt.
In unseren Postkorb-/Workflow-Auswahlunterlagen ist daher eine Frage von elementarer Bedeutung:
Ist die angebotene Postkorb-/Workflow-Anwendung der abgefragten ECM-Lösung dokumenten- oder vorgangsorientiert?
Eine kurze Frage, die es allerdings in sich hat. Was bedeutet eigentlich dokumenten- vs. vorgangsorientierte Postkorb-/Workflow-Lösung im Detail und welche Auswirkungen kann dies auf Lösungsszenarien in ECM-Projekten haben? Zur Klärung sollen vorab einige Grundbegriffe erläutert werden.
Geschäftsprozess/Geschäftsvorfall/Geschäftsvorgang:
Grundsätzliche Zielsetzung ist es, mit Postkorb-/Workflow-Anwendungen Geschäftsprozesse abzubilden. Häufig werden auch Synonyme wie „Geschäftsvorfall“ oder „Geschäftsvorgang“ dafür verwendet.
Ein Geschäftsprozess in einer Kommune kann zum Beispiel die Beantragung einer Baugenehmigung sein oder in der Versicherungswirtschaft der Abschluss einer neuen Kfz-Police etc.
Aktivität/Aufgabe:
Der zuvor definierte Geschäftsprozess kann aus einer bis mehreren Aktivitäten bestehen, die eigene Prozessabläufe und Prozessregeln zur Abarbeitung bzw. Erledigung besitzen können. Wesentliches Merkmal einer Aktivität ist, dass sie in der Regel von einer einzelnen Person oder Instanz und typischerweise in einem einzelnen Arbeitsgang durchgeführt wird. Aktivitäten zu einem Geschäftsvorgang sind also typischerweise einzelne Aufgaben, die zur Erledigung des Geschäftsvorfalls abgearbeitet werden müssen. Nehmen wir unser obiges Beispiel der Baugenehmigung, dann kann eine Aktivität z.B. die Vorprüfung der eingereichten Bauantragsunterlagen, die Antragsdatenerfassung oder die Genehmigung des Antrags darstellen.
Geschäftsvorgangsliste:
Die Zusammenfassung aller Geschäftsvorgänge zu einem Geschäftspartner bzw. Kunden, unabhängig davon, in welchem Unternehmensbereich ein Kundenvorfall bearbeitet wird, ist der enorme Vorteil einer Geschäftsvorgangsliste. Hierdurch wird eine komplette, unternehmensweite Kundensicht möglich (in vielen Unternehmen auch „360° Kundensicht“ genannt).
Bei einer Versicherung kann beispielsweise ein Kunde gleichzeitig mehrere Aktivitäten in unterschiedlichen Bereichen offen haben. So z. B. im Betriebsbereich einen Antrag auf Erhöhung der Haftpflichtversicherung oder im Bereich Kfz eine Schadensmeldung oder im Bereich Rechtsschutz die Kündigung der Rechtsschutzversicherung. Eine Übersicht über alle abgeschlossenen, laufenden und noch anstehenden Geschäftsprozesse ist möglich.
Aktivitätenliste:
Eine Aktivitätenliste enthält alle Aktivitäten zur Erledigung eines Geschäftsvorgangs. Die Bereitstellung von Informationen zu den einzelnen Aktivitäten innerhalb der Aktivitätenliste ist sehr wichtig. Vorteilhaft ist es, beispielsweise den bearbeitenden Personen oder Instanzen anzuzeigen, welche Aktivität aktuell von wem bearbeitet wird, welche Aktivitäten wann von wem bearbeitet wurden, welche noch zur Beendigung des Geschäftsvorfalls anstehen und welche überhaupt erst abgearbeitet werden müssen, um die nächste Aktivität ausführen zu können.
Es ist wichtig, die zuvor erklärten Grundbegriffe zu verstehen, denn nur so lässt sich der Unterschied von dokumenten- und vorgangsorientierten Postkorb-/Workflow-Anwendungen erklären.
Nun aber zu den Details: Ist die Postkorb-Verarbeitung dokumentenbasiert bedeutet dies, dass es keine Geschäftsvorgänge ohne ein elektronisches Dokument im Postkorb-/Workflowsystem gibt. Liegt ein entsprechendes elektronisches Dokument vor, so kann die Steuerung des Workflows unter Berücksichtigung der eindeutigen Dokument-ID gestartet werden. Soll auch ein Geschäftsprozess ohne Dokument gestartet werden, so wird in diesem Falle von dokumentenbasierten Postkorb/Workflow Anbietern das „künstliche“ Konstrukt eines „leeren“ bzw. eines „Pseudo“-Dokumentes benutzt, um einen Geschäftsprozess ohne Dokument überhaupt auszulösen. „Pseudo“-Dokument bedeutet in diesem Fall, dass „nur“ eine Dokument-ID und gegebenenfalls dazugehörige Metadaten erzeugt werden, aber kein oder nur ein „leeres“, bzw. nicht sichtbares Dokument dazu angelegt wird.
In einem vorgangsorientierten Postkorb-/Workflowsystem muss der Geschäftsvorfall und möglichst auch die einzelne Aktivität eine eigene, eindeutige Identifikationsnummer, unabhängig von den Dokumenten-IDs, besitzen. Es können somit 0 bis n Dokumente zu einem Geschäftsvorgang und/oder zu einer Aktivität eines Geschäftsvorgangs gehören. Hierzu ist ein erweitertes Datenmodell notwendig, das nicht nur die Dokumenten-ID als eindeutige Kennnummer versteht, sondern auch die eindeutige Geschäftsvorgangs-ID und die Aktivitäten-ID.
In der Praxis bedeutet das zum Beispiel, dass alle o. g. Objekte wie Geschäftsvorgang, Aktivität und Dokument in einer vorgangsorientierten Postkorb-/Workflow-Lösung unabhängig voneinander in Relation zueinander stehen, untereinander verknüpft werden können, eigene Metadaten/Attribute besitzen, exakte Protokollierungen über die Anzahl von Geschäftsprozessen und den dazugehörige Aktivitäten durchgeführt werden und die Durchlaufgeschwindigkeiten einzelner Prozesse bis hin zu einzelnen Aktivitäten ausgewertet werden können. Kurzum, eine transparente und auswertbare Sicht auf die abgebildeten Prozesse eines Unternehmens ist möglich, was zu einer erheblichen Effizienzsteigerung führt. Häufig ist nur so das Geschäftsmodell der Industrialisierung von Prozessen in Versicherungen, Banken oder anderen regulierten Branchen möglich.
Anders sieht es für ein dokumentbasiertes Postkorb-/Workflow-System aus. Hier fehlen die Relationen von Geschäftsvorgang, Aktivitäten und Dokumenten. Über den bereits weiter oben erwähnten Schlüssel der Dokumenten-ID von sogenannten „Pseudo-Dokumenten“ und den Metadaten dieser Pseudo-Dokumente wird hier häufig versucht, die fehlenden Relationen eines vorgangsorientierten Postkorb-Workflowsystems „nachzubauen“. Dieses führt so gut wie immer zu Einbußen bei der technischen und funktionalen Projektumsetzung und bei der Protokollierung und Auswertbarkeit von Geschäftsprozessen.
Das muss allerdings nicht heißen, dass dokumentbasierte Prozesstools für eine Workflowsteuerung ungeeignet sind. Wie immer kommt es hier auf die fachlichen Anforderungen an, die mit einem Workflowsystem abgedeckt werden sollen. Einzelabläufe, wie z.B. der klassische Urlaubsantrag, Freigabeszenarien zur Qualitätssicherung von Dokumenten oder Anordnungsprozesse in öffentlichen Verwaltungen sind für dokumentbasierte Postkorbsysteme durchaus geeignet, da diese Prozesse typischerweise ein Schriftstück als Prozessauslöser besitzen und dieser Geschäftsprozess ausschließlich anhand der Informationen des Schriftstücks „abgearbeitet“ wird.
Welches System ist nun aber zu empfehlen? Die Erfahrung zeigt: In Auswahlprozessen von ECM-Systemen bieten strukturierte Fragebögen zur Ist-Aufnahme der Fachprozesse eine wertvolle Hilfestellung. Ebenso verhält es sich mit bereits praxiserprobten Unterlagen zur Postkorb-/Workflow-Systemauswahl. Nicht nur die kurzfristigen, offensichtlichen Anforderungen im Postkorb-/Workflowbereich sind dabei zu berücksichtigen. Ebenso wichtig ist es, die bislang wenig bekannten langfristigen fachlichen Postkorbanforderungen zu identifizieren, denn nur so lässt sich Flexibilität und damit Zukunftssicherheit gewinnen. Denn eines macht das obige Beispiel auch klar: Mit einem dokumentenorientierten Postkorbsystem lassen sich die Anforderungen einer vorgangsorientierten Prozessteuerung nicht abbilden. Umgekehrt lassen sich aber dokumentbasierte Abläufe mit vorgangsorientierten Postkorb-/Workflowanwendungen abbilden. Wer hier auf Nummer sicher gehen möchte, dem ist ein vorgangsorientiertes Postkorb-/Workflowsystem zu empfehlen, welches aber nicht von allen ECM-Anbietern angeboten wird. Für die Prüfung ist eine sorgfältige Produktrecherche und ggf. sogar ein Blick auf das technische Datenmodell der Postkorb-/Workflowlösung des ECM-Anbieters empfehlenswert.
Abschließend werden in komprimierter Form die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale der dokument- und vorgangsbasierten Prozesssteuerungswerkzeuge aufgelistet.
Eigenschaft | Standardverhalten Dokumentbasierte Postkorb-/Workflowlösungen | Standardverhalten Vorgangsorientierte Postkorb-/Workflowlösung |
Die Geschäftsvorgänge können unabhängig von einem „Dokument“ ausgelöst, bearbeitet und verfolgt werden. | Häufig nein (Teilweise über den Konstrukt eines Pseudo-Dokumentes möglich) | Ja |
Präventive Vorbereitung eines Geschäftsvorgangs (auch wenn noch kein Dokument zum Geschäftsvorgang vorliegt, kann ein Geschäftsvorgang gestartet werden). | Teilweise (gegebenenfalls über den Konstrukt eines Pseudo-Dokumen tes) | Ja |
Implementierte Prozesse / Geschäftsvorgänge bleiben von neuen Dokumenten, Dokumententypen bzw. Dokumentänderungen während des Prozessablaufs unberührt. | Neue oder geänderte Dokumente, die als Prozessvorlagen dienen und einen Prozess auslösen, haben ggf. eine neue Prozessdefinition zur Folge. | Ja |
Eine einheitliche Protokollierung, Statistik- und Prozessmonitoringfunktion ist über den gesamten Geschäftsvorgang inklusive aller Teilaktivitäten möglich. | Eine Protokollierung kann typischerweise nur in Zusammenhang mit dem Einzelprozess erfolgen, der anhand des auslösenden Dokuments stattfindet. | Ja |
Der Anwender kann durch den kompletten Geschäftsvorgang geleitet werden (einfache Sachbearbeitung). | Teilweise, abhängig vom Geschäftsprozess | Durchgängig möglich |
Die Möglichkeit zur Dunkelverarbeitung (völlig automatisierter Prozessablauf ohne manuelles Eingreifen) von Geschäftsvorgängen ist gegeben. | Ja , aber Dunkelverarbeitung ist typischerweise nur schwer möglich, wenn Prozesse nicht dokumentbezogene Informationen benötigen (z.B. in Datenbank abgelegte Informationen aus anderen Fachsystemen, die typischerweise keine Dokumente darstellen). Hierfür sind erfahrungsgemäß hohe Programmieraufwände bzw. individuelles Scripting notwendig. | Ja, auch hier sind erfahrungsgemäß hohe Programmieraufwände bzw. individuelles Scripting notwendig. |
Arbeitslisten enthalten eine komplette Geschäftsvorgangssicht, mit allen Informationen zu einem Geschäftsvorgang. | Aktivitätenlisten enthalten i.d.R. die Dokumente zu einem Prozess (ähnlich einer Trefferliste). Eine Gesamtsicht auf einen Geschäftsvorfall mit Einzelaktivitäten ist ggf. nicht möglich. | Ja |
Der komplette Geschäftsvorgang mit allen Aktivitäten wird automatisch nach vorgegebenen Regeln über alle Tätigkeiten hinweg auf inhaltliche Plausibilität und Vollständigkeit validiert. | Da bei der dokumentbasierten Vorgangsbearbeitung Inhalte und Informationen teilweise nur im Dokument selbst enthalten sind, kann die Plausibilität und Vollständigkeit nicht durchgängig vom System validiert werden. Validierungs- und Plausibilitätsprüfungen unterliegen dem Sachbearbeiter-Know-how. | Möglich |
Die Möglichkeit für eine einheitliche Postkorbsicht mit Verknüpfungen zu anderen laufenden Geschäftsvorgängen und/oder Aktivitäten eines Kunden ist gegeben. | Verzweigungen zu anderen laufenden oder historisierten Geschäftsvorgängen sind durch die ausschließlich dokumentbasierte Vorgangssteuerung nur schwer möglich. | Ja |
Eine automatische Aktivierung von Wiedervorlagen, die sich nicht nur auf Dokumente, sondern auch auf Vorgänge bzw. Aktivitäten bezieht, ist gegeben. | Wiedervorlagen beziehen sich häufig auf die Dokumente in einem Postkorb, weniger auf die gesamte Aktivität bzw. den Prozess. | Ja |
Rücksprünge auf einen zuvor abgeschlossenen Prozessschritt | Rücksprünge auf einen zuvor abgeschlossenen Prozessschritt lassen sich nur schwer abbilden, da während der Prozessbearbeitung ggf. Veränderungen am bzw. im Dokument selbst stattgefunden haben. | Ja |
Sachbearbeitung wird nur aktiviert, wenn alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen bzw. wenn erledigte Aktivitäten erfüllt wurden | Es wird möglicherweise eine Tätigkeit im elektronischen Postkorb aktiviert, sobald ein Dokument vorliegt, auch wenn weitere Informationen zum Bearbeiten eines Vorgangs noch fehlen. Eine aktive Informationsbeschaffung durch die Sachbearbeitung muss für die weitere Fallbearbeitung erfolgen, welches ggf. zu einer Prozessunterbrechung führen kann. | Ja |