Nach Jahren der Ruhe sorgten innerhalb weniger Wochen 2 spektakuläre Übernahmen für eine deutliche Veränderung des ECM-Marktes. Ist dies die Konsolidierung, die einige Marktbeobachter nun schon seit Jahren postulieren? Wir glauben : Nein! Den Reigen eröffnet hat EMC mit der Übernahme von Documentum: Selbst Kenner des Marktes waren von diesem Schachzug überrascht worden, der jedoch aus EMC-Sicht durchaus Sinn macht. Spätestens seit der Übernahme von Legato Anfang des Jahres beweist EMC die Ernsthaftigkeit seiner Strategie weg vom reinen Hardwaregeschäft und hin zu margenträchtiger Software.
Während der Legato-Zukauf in halbwegs angestammtem Gefilde stattfand, erwarb EMC mit Legato doch Backup- und HSM-Software für das Rechenzentrum – begibt sich der Hersteller von Speichersystemen mit dem Zukauf von Documentum direkt in den ECM-Applikations- und Lösungsmarkt – und ist damit unmittelbar auf dem Desktop des Anwenders präsent. Dabei sind ECM-/DM-Systeme wunderbar geeignet, komplementär bereitgestellte EMC-Hardware Speichersysteme mit wertvollem Inhalt – dem unstrukturierten Unternehmenswissen – zu füllen. Als einer der wenigen Großen im ECM-Markt hatte Documentum bislang überdies keine eigene Storage-Strategie und war bezüglich der Langfristarchivierung von Dokumenten auf Archivsystem-Partner angewiesen.
Mit der Übernahme von IXOS hat OpenText aus Kanada den Reigen fortgesetzt: Der als „Merger“ angekündigte Deal, bei dem tatsächlich OpenText die Trümpfe in den Händen hält, kommen zwei etablierte ECM-Hersteller zusammen: Vor allem in Deutschland ist IXOS seit Anfang der 90er Jahre als SAP-Archivspezialist bekannt, OpenText hat das Rennen in Deutschland Mitte der 90er Jahre aufgenommen, und trat ursprünglich als „Knowledge-Management“-Anbieter auf. Inzwischen hat sich die Positionierung relativiert – man ist inzwischen auf dem Markt für Collaborative Document Management aktiv. Gemeinsam gehören OpenText und IXOS nun zu den ganz Großen im ECM-Markt und steht bei Umsatz und Mitarbeiterzahl inzwischen mit FileNet aus Costa Mesa, Kalifornien auf etwa gleicher Höhe
Für die Anwender wichtig: Wie werden die Überlappungen der beiden Produktportfolien bereinigt, die sich vor allem durch Zukäufe innerhalb der letzten 2 Jahre ergeben haben? So hat die von OpenText im Frühjahr 2003 übernommene Firma Gauss bereits in 2001 mit Magellan einen vor allem in den USA etablierten Hersteller für Archivlösungen mittelständischer Anwender übernommen – diese Lösung steht funktional mehr oder minder unmittelbar in Konkurrenz zum Kernprodukt der IXOS Software AG, dem eCONServer. Das Kernprodukt von Gauss selbst, das etablierte Web-Content-Management System VIP ist funktional stark überlappend mit der IXOS Akquisition Obtree.
Es ist wenig wahrscheinlich, dass für die identische Aufgabenstellung Web Content Management zwei unterschiedliche Produkte eines Anbieters eine dauerhafte Überlebenschance haben – OpenText / IXOS wird sich hier bald seinen Kunden und Interessenten gegenüber erklären müssen.
Beide Übernahmen verändern sicherlich den ECM-Markt – wie jede Übernahme in diesem Sektor, erst recht unter „Großen“. Wir sehen jedoch weder das Verschwinden ganzer Produktpaletten noch ein Zusammenschmelzen der Herstellerzahlen: Mit jedem übernommenen ECM-Hersteller kommt mindestens ein neuer Hersteller auf den Markt.
Die Aufgabenstellung „ECM“ ist zu heterogen, um nur von wenigen Anbietern vollständig abgebildet zu werden: Spezialanwendungen wie PDM (Product Document Management) werden dauerhaft von Spezialanbietern bedient werden, die im Umfeld von Ingenieurwesen ihr vertieftes Know-how aufweisen, und Archivprodukte wird es auch weiterhin in ganz unterschiedlicher Couleur geben – entsprechend der unterschiedlichen fachlichen und technischen Anforderungen der Anwender.
Die aktuelle Anbieterübersicht zum Thema ECM/DMS ist so umfangreich wie nie zuvor – sicherlich kein Indiz für Konsolidierung. „Die Großen werden immer größer, aber nicht einsam“ lässt sich die Situation vielleicht zusammenfassen. Die mittelständischen Firmen mit deutlich kleineren Budgets werden von den Großen des Marktes kaum adressiert. Deren Produkte sind weder architektonisch noch preislich ausreichend weit nach unten skalierbar. Die zahlreichen kleineren Anbieter in diesem Segment müssen daher nicht um ihre Existenz fürchten, solange sie die Anforderungen ihrer Klientel erfüllen. Und solange die Zuwachsraten im DMS/ECM-Markt bei manchen kleinen Anbietern deutlich größer sind als bei den Großen gilt die mathematisch einfache Weisheit: Wer langsamer wächst als seine Wettbewerber, der verliert Marktanteile. Betrachtet man sich nur den deutschen Markt, dann verlieren hier manche Großen massiv Marktanteile gegen die agilen Kleineren. Vielfalt ist angesagt, nicht Konsolidierung und das ist auch gut so.
Die Auswahl eines geeigneten Systemlieferanten wird durch die getätigten Übernahmen somit nicht einfacher – „drum prüfe, wer sich ewig bindet“ bedeutet auch in der Zukunft, nicht blind der Größe eines Herstellers vertrauend hinter ihm her zu laufen.