Wer bei der Auswahl der geeigneten ECM-Lösung (ECM = Enterprise Content Management) vor allem bei Archivsystemen nur grob hinschaut, gewinnt schnell den Eindruck: „Alle Systeme sind gleich“. Gerade die Oberflächen der angebotenen Systeme ähneln sich immer mehr und die Funktionslisten der Angebote scheinen zunächst identisch. Die Sicht hinter die Kulissen deckt jedoch deutliche Unterschiede zwischen den Angeboten auf, die für den Erfolg des Projekts von erheblicher Bedeutung sind.
Wer denkt bereits im Rahmen der Systemauswahl an Benutzerberechtigungen, Benutzersynchronisierung oder die Frage, welche Anwender innerhalb der künftigen Lösung eigentlich Zugriff gewähren und Rechte vergeben dürfen? Solche administrativen Funktionen und weitere Anwendungsfunktionen sind jedoch für die Bedienbarkeit der Lösung von großer Bedeutung, soll sich das Archivsystem doch möglichst nahtlos in die Unternehmens-Organisation und EDV einbinden.
Gerade in projektbezogenen Arbeitsumgebungen, kommunalen und auch in mittelständischen Umgebungen werden immer häufiger Aktenbearbeitungsfunktionen benötigt. Wer nicht bereits im Rahmen der Systemauswahl gezielt nach Werkzeugen zur Aktengestaltung und Aktennutzung fragt, wird im laufenden Projekt möglicherweise unnötig hohen Programmieraufwand leisten müssen.
Die beiden genannten Beispiele weisen eine Gemeinsamkeit auf: Die angesprochenen Funktionsgruppen erscheinen ebenso selbstverständlich für eine Dokumenten Management-Lösung wie sie in ihrer funktionalen Ausprägung beliebig komplex und leider auch beliebig unzulänglich gestaltet sein können.
Nichts ist selbstverständlich!
Eines sollte man sich bei der Systemauswahl immer vor Augen halten: Nichts ist selbstverständlich! Mit diesem Motto, einer gesunden Portion Skepsis und einem guten Werkzeug bewaffnet lässt sich jedoch der wahre Funktionsumfang der angebotenen Lösungen gut ermitteln.
Bewährt hat sich hierbei die Nutzung eines strukturierten Anforderungskatalogs: Mit Hilfe fest vorgegebener Fragen und Antwortmöglichkeiten lässt sich eine gute Vergleichbarkeit der Angebote erreichen. Wichtig ist jedoch die „korrekte“ Formulierung der Fragen und der möglichen Antworten. Ist eine Frage zu unspezifisch, kann der Anbieter schnell und ohne rot zu werden „Ja“ ankreuzen – so z.B. geschehen bei der Frage „Unterstützen Sie den XYZ-Standard?“ (mit „Ja“ wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Standardisierungsbemühungen mit einer Spende unterstützt worden waren, im Produkt selbst gab es jedoch keine funktionale Unterstützung des Standards).
Aufbau und Inhalte
Der Aufbau eines Anforderungskatalogs ist keine einfache Sache und es wird viel Spezialwissen und Erfahrung benötigt, um alle wichtigen Fragen und möglichen Antworten mit einerseits ausreichend konkreter und andererseits nicht unnötiger Tiefe zu formulieren. Sicherlich ist es wichtig, bereits vorab zu wissen, ob und wie die künftige ECM-Lösung die Benutzerverwaltung des Microsoft Active Directory nutzen kann.
Ein vollständiger Anforderungskatalog muss Fakten zu ganz unterschiedlichen Aspekten und Komponenten der Gesamtlösung aufdecken: Welche Plattformen werden unterstützt, aus wie vielen Komponenten besteht die Gesamtlösung? Welche Sicherheits- und Hochverfügbarkeitskonzepte werden unterstützt? Welche Anwendungsfunktionen stehen zur Verfügung – möglicherweise in unterschiedlichen Client-Softwareausstattungen: Wird (lokales) Scannen unterstützt? Wie kann der Anwender lokale Office-Dateien speichern und überarbeiten? Wie werden E-Mails integriert? Welche Aktenverwaltungsfunktionen stehen zur Verfügung? Welche Programmier- und Integrationsschnittstellen stehen bereit? Die Anzahl aller Fragen, für die ein Anwender Antworten benötigt, um eine sichere Entscheidungsgrundlagen zu erhalten ist mindestens dreistellig. Umso wichtiger ist es, das Rad nicht jedes Mal neu zu erfinden, sondern bewährte Werkzeuge zu verwenden, die die Unterschiede der Produkte sicher identifizieren und die Projektrisiken aufzeigen.
Die Zusammenstellung der richtigen Fragen eines Anforderungskatalogs ist nur die eine Sache – die korrekte Auswertung eine andere.
Bewertung frühzeitig planen
Bereits bei der Zusammenstellung der Anforderungen sollten sich die künftigen Anwender über die Bewertung möglicher Antworten Gedanken machen. Hilfreich ist es, wenn der Anforderungskatalog „wenn – dann“ Szenarien unterstützt: „Wie verändert sich das Angebots-Ranking, wenn wir von der Annahme ausgehen, dass alle Anwender mit dem Browser-Client statt mit dem Windows-Client arbeiten?“. Das Angebot, das in den verschiedenen geplanten Szenarien-Alternativen mehrfach gut punktet erscheint für die Auswahl möglicherweise besser geeignet als das Konkurrenzangebot, das lediglich in einer bestimmten Konstellation die meiste Punktzahl aufweist und sonst eher niedrig zu bewerten ist.
Für eine faire Bewertung der Angebote ist erneut Erfahrung und Fingerspitzengefühl gefragt. Die gemachten Angaben sind mit gesunder Skepsis zu bewerten – im Zweifel sollte man beim Hersteller rückfragen und sich unklare Zusammenhänge erläutern lassen.
Ein nicht zu unterschätzender Nutzen der Arbeit mit einem Anforderungskatalog liegt darin, eine Vergleichbarkeit der Systemangebote derart transparent zu gestalten, dass nicht nur die persönliche Auswahlentscheidung deutlicher ausfällt, sondern diese Entscheidung sowohl in der Projektgruppe getragen als auch zum Management gut transportiert werden kann. Der gesamte Entscheidungsprozess wird für alle Beteiligten transparent und nachvollziehbar – eine gute Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzungsphase.
Jeder Themenkomplex und jede Einzelfrage hat eine bestimmte, individuelle Gewichtung, die sich aus dem Anforderungsprofil des Anwenders ergibt. Die Bedeutung eines Java-Clients, der Nutzung vorhandener Speichersysteme, der Verwendung der präferierten Datenbank-Plattform sind Beispiele für solche Anforderungen, die bei jedem Anwender eine unterschiedliche Gewichtung haben. Ein gutes Werkzeug muss es einfach machen, diese individuellen Profile zu berücksichtigen.