In kaum einem Land gibt es ein ähnlich vielfältiges DMS-Produktangebot wie in Deutschland. Der VOI hat im Herbst 2006 eine Übersicht mit 55 Produkten von 52 Herstellern (Dokumenten Management Systeme: Hersteller und Produktüberblick, September 2006; ISBN:3-932898-13-3; VOI Verband Organisations- und Informationssysteme, Bonn) herausgebracht – und die ist angesichts der vielen Nischenprodukte nicht einmal vollständig.
Auf den ersten Blick scheinen sich die DMS-Produkte kaum zu unterscheiden. Bei oberflächlicher Betrachtung sind die Systeme vermeintlich identisch: alle bieten mit wenigen Unterschieden denselben Satz an Kernfunktionen an.
Doch der zweite Blick offenbart nicht nur konzeptionelle, sondern auch architektonische und vor allem fundamentale funktionale und ergonomische Unterschiede, die für die Akzeptanz des Systems bei den Anwendern von grundlegender Bedeutung sind und deutlichen Einfluss auf den Projekterfolg haben.
Die neue Artikelserie zur DMS-Auswahl startet daher mit der Darstellung einer geeigneten Vorgehensweise, um relevante Produktunterschiede in den bereitgestellten Client-Funktionen mit betriebswirtschaftlich sinnvollem Aufwand zu identifizieren und vor dem Hintergrund der eigenen Anforderungen zu bewerten und zu gewichten.
Anforderungskatalog /-fragebogen
„Die sagen mir ja doch nur das, was gut funktioniert und nicht das, was gar nicht oder nur unzureichend läuft“, ist die Erfahrung des einen oder anderen künftigen Anwenders einer DMS-Lösung. der versucht, durch die Präsentation und Befragung von Herstellern eine für sein Unternehmen passende Lösung zu finden.
Diese Einstellung ist verständlich, denn Anbieter sind zunächst vom Umsatz getrieben und daher nur schwer dazu zu bringen, diejenigen Produktdetails zu benennen, die im konkreten Projekt fehlen oder unzureichend ausgeprägt sind. Nach unseren Erfahrungen gibt es daher keine ernst zu nehmende, belastbare Alternative zu einem Fragebogen im Auswahlverfahren: Zu groß sind die Vorteile eines gut gestalteten und gewissenhaft ausgefüllten Fragebogens, der zudem als verpflichtender Bestandteil der Projektverträge juristische Bedeutung erlangen kann.
Es kommt allerdings darauf an, die richtigen Inhalte und Formulierungen in den gestellten Fragen zu finden, um die für den zukünftigen Anwender wichtigen Unterscheidungskriterien herauszuarbeiten, sonst rentiert sich der getätigte Aufwand nicht.
In zahlreichen Produktauswahlprojekten hat sich die Verwendung eines Fragebogens bewährt, der in einer festen Struktur die wesentlichen Anbieter- und Produktaspekte in unterschiedlichen Fragenbereichen abdeckt:
- Angaben zum Anbieter bzw. Hersteller
- Supportangebot des Herstellers und des Integrationspartners,
- Zugelassene Plattformen
- Funktionsbereiche
- Archivierung
- Scannen und Indizieren
- COLD
- Client-Funktionen
- Mail-Archivierung
- DMS
- Workflow
- generelle Systemeigenheiten:
- Dokumentenverwaltung
- Schutzmechanismen
- Hochverfügbarkeits- und Sicherungskonzepte
- Programmierschnittstellen bzw. Integrationsmöglichkeiten
- Spezialfunktionen
- OCR/ICR, Klassifikation
- Aktenbearbeitung
- SAP-Integration etc.
- Referenzen
Mit Referenzen sind nicht die allgemeinen Kundenlisten in den Produktbroschüren der Anbieter gemeint. Es sollten Referenzen abgefragt werden, die ähnliche Anforderungen an das auszuwählende System haben (wie Branche, Plattform, fachliche Anforderungen) und mit nachprüfbaren Parametern versehen werden, wie Anzahl Anwender, Dokumentenzuwachs, konkrete Integrationen in bestimmten Anwendungen und Verfahren. Ein Anruf oder noch besser ein Besuch bei einem Anwender sollte auf jeden Fall mit eingeplant werden.
Ein Fragebogen sollte allerdings nicht als Informationsgrab dienen, sondern erlauben, die enthaltenen Informationen zu bewerten und Antworten zu mehreren Produkten vergleichend einander gegenüberzustellen, um zu einer transparenten und nachvollziehbaren Entscheidung zu kommen. Daher ist ein Auswertungsmodul als Bestandteil des Fragenkatalogs wichtig. Auch hat es sich bewährt, „Wenn – dann“-Szenarien innerhalb des Fragebogens zu ermöglichen, um eine Vergleichsbewertung von Produkten aus unterschiedlichen Perspektiven zu ermöglichen, z.B. aus dem Blickwinkel der SAP-Archivierung vs. eigenständiger, ggf. programmierter DMS-Oberfläche.
Wichtig ist auch, die Antwortmöglichkeit klar und eindeutig zu formulieren. Dabei ist eine Reduzierung auf „Ja“ und „Nein“ nicht ausreichend. Der Anbieter sollte darauf festgelegt werden, zu antworten, ob und mit welchem Aufwand bzw. welchen Kosten die Funktion oder Eigenschaft realisiert werden kann:
- Standard, d.h. ohne weitere Kosten im Lizenzpreis enthalten
- Customizing, d.h. im Lizenzpreis enthalten, aber mit Implementierungsaufwand
- Programmierbar, d.h. nur durch individuelle Anpassung herstellbar
- Nein, d.h. auch durch Programmierung nicht realisierbar
Im Angebot sollte dieser Aufwand, der zur Herstellung der geforderten Funktion notwendig ist, mit Preisen aufgeführt sein, um einen objektiven Preisvergleich sicherzustellen.
In konkreten Auswahlprojekten hat es sich bewährt, nicht allein die unmittelbar im Fragebogen enthaltenen Angebotsdetails zu bewerten. Neben diesen spielen vornehmlich die Preisgestaltung des konkreten Angebots, bestehend aus Lizenz-, Support- und Dienstleistungsvereinbarung sowie die Zusammenarbeit mit dem möglichen Projektpartner eine gewichtige Entscheidungsrolle. Es ist daher zu empfehlen, den Auswertungsteil des Fragebogens um solche projektspezifischen Parameter ergänzen zu können, die teilweise erst im Laufe des Ausschreibungsverfahrens zutage treten. Hierzu zählen immer wieder die Bewertung der Angebotsqualität und -individualität sowie das Interesse des Anbieters an der Projektumsetzung, das sich häufig aus konkreten Vorschlägen und Empfehlungen ableiten lässt.
Dem beantwortenden Anbieter sollte klar sein, dass der Fragebogen mit den darin zugesagten Produkteigenschaften Vertragsbestandteil wird, wenn er den Zuschlag erhält, um eine realistische Beantwortung der Fragen sicherzustellen. Der Fragebogen ersetzt allerdings nicht das Feinkonzept, in dem die Anforderungen detailliert verbal beschrieben sind, sondern ist zusammen mit den weiteren Ausschreibungsunterlagen Vertragsbestandteil.
DMS-Client-Funktionen
Offensichtlich ist die Bedienbarkeit und Funktionalität eines DMS-Clients für den Projekterfolg von hoher Bedeutung, da hiervon letztlich die Arbeitsgeschwindigkeit in der Sachbearbeitung abhängt.
Auf den ersten Blick, z. B. im Rahmen eines Messebesuchs, sehen die Clients der verschiedenen Produkte teilweise ähnlich aus oder scheinen zumindest einen mehr oder weniger identischen Funktionsumfang zu bieten.
Tatsächlich sind bereits die Unterschiede zwischen den produktindividuellen Dokumentenanzeigefunktionen (Viewer) erheblich gravierender, als dies vermutet wird.
Der folgende, kurze Ausschnitt aus dem Fragebogenkatalog von Zöller & Partner zeigt beispielhaft Fragestellungen, die bei der Bewertung unterschiedlicher Viewer von Bedeutung sind und die Unterschiede in der Bedienbarkeit aufdecken.
Abbildung 1: Beispielhafte Fragestellungen für die Bewertung der Viewer-Funktionen
Bereits die Frage, ob der Viewer Bestandteil des Angebots ist, erscheint auf den ersten Blick erstaunlich – eine solche Funktion sollte doch als Basis eines jeden Dokumenten Management Systems gelten und daher in allen Produkten mitgeliefert werden, sollte man denken. Allerdings haben einige DMS-Hersteller die Entwicklung eigener Dokumenten-Viewer eingestellt, nachdem Microsoft eine TIFF-Anzeigemöglichkeit ohne Zusatzkosten in Windows bereitgestellt hat. Es ist jedoch zu beachten, dass es keine Standards für die Verwaltung von Annotationen, gelben Zetteln und Dokumentennotizen gibt, so dass diese DMS-typischen Funktionen bei Einsatz eines DMS-fremden Viewers in der Regel nicht verfügbar sind. Hinzu kommt der aktuelle Trend, dass zunehmend auch andere Formate – vor allem PDF, aber auch native Formate der MS Office-Anwendungen sowie Objekte, die erst mittels Style Sheets für den normalen Benutzer lesbar gemacht werden, in einem DMS abgelegt und dann auch wieder reproduziert werde sollen. Daher stehen dem Anwender grundsätzlich die folgenden Varianten zur Verfügung:
- Bitmap Viewer des DMS-Herstellers, andere Formate (MS Office etc.) werden von externen Anwendungen angezeigt
- Multiformat-Viewer des DMS-Herstellers
- Nur externe Viewer für TIFF oder PDF und andere Formate
Die Wahl der Variante hat direkten Einfluss auf die Ergonomie (wie viele Viewer muss der Anwender lernen?), die Funktionalität (Annotationen, Weiterleiten von Links aus dem Viewer etc.) und die Performance (müssen für das Durchblättern einer Akte 4 verschiedene Viewer-Controls geladen/entladen werden oder genügt ein einziges Control für alle 4 Dokumentformate?).
Je mehr unterschiedliche Formate der im DMS enthaltene Viewer anzeigen kann, umso seltener muss der Anwender beim Blättern durch die Akte auf das Laden einer separaten Anzeigefunktion warten und kann somit schneller auf die im DMS enthaltenen Informationen zugreifen.
Und natürlich hat die Auswahl der Viewing-Variante in vielen Fällen Einfluss auf den Preis, weil häufig die annotationsfähigen PDF-Viewer oder die Multi-Format-Viewer nicht Bestandteil der Standard-Client-Komponenten sind (alleine deshalb sollte man diese Details erfragen).
Weitere Themen ranken sich um die Bedienbarkeit der Anwendung und der gebotenen Übersichtlichkeit – schließlich ist der Platz auf einem Monitor mit einer Bilddiagonalen von 17“, 19“ und selbst bei über 20“ gegenüber der herkömmlichen Akten- und Papierbearbeitung deutlich eingeschränkt.
Dazu gehören auch Fragen zu Suchmöglichkeiten im Archiv, die genau durchleuchtet werden sollten: Je konkreter die Suchmöglichkeit, umso erfolgreicher die Suche – Google-ähnliche Trefferlisten mit Tausenden oder Millionen von Treffern sind in einem DMS für den Anwender wenig hilfreich.
Anwender, die vornehmlich mit bestimmten Teilbereichen des Dokumentenarchivs arbeiten, nutzen gerne die Möglichkeit, eigene Suchabfragen zu speichern und später erneut aufzurufen – ähnlich der „Favoriten“-Funktion im Web-Browser:
Abbildung 2: Fragen zu den Suchmöglichkeiten im Archiv
Weitere Fragen beleuchten z. B. eine mögliche Tastaturbedienung, die zumeist ein schnelleres Arbeiten als die Mausbedienung ermöglicht, Annotationsmöglichkeiten von Dokumenten und deren Auswirkung auf Export- und Druckfunktionen sowie hierarchische Darstellungen von Trefferlisten, die eine Vorstufe der Aktenbearbeitung darstellen.
Spezielle Bereiche des Fragebogens widmen sich spezifischen Aktenbearbeitungs- und Postkorbfunktionen, die aber nicht in jedem Projekt benötigt werden. Diese werden in einem der folgenden Beiträge dieser Serie zur DMS-Produktauswahl beleuchtet.
Die in jedem Projekt benötigten Fragen zur Client-Anwendung betreffen die unterstützten Plattformen, insbesondere die Lauffähigkeit des Clients innerhalb einer Terminal-Server-Umgebung oder im Web-Browser insbesondere die dort verwendete Technologie für Trefferlisten- und Dokumentenanzeige. Achtung: Heutige Browser sind nicht unmittelbar in der Lage, gescannte Dokumente, COLD- oder Office-Dokumente anzuzeigen, sondern erwarten vielmehr zusätzliche Programmfunktionen auf dem Arbeitsplatzrechner, die die entsprechenden Dateiformate anzeigen können (Applets, Plug-Ins etc.). Einerseits aus administrativer und andererseits aus funktionaler Sicht und Performanceabschätzung ist es daher wichtig zu untersuchen, welche Technologie für die Anzeige von Dokumenten genutzt wird.
Einige Hersteller verwenden eine serverseitige Wandlung der unterschiedlichen Dokumentenformate in ein Browser-fähiges Format (z. B. in JPG oder BMP), um die Einbindung spezieller Anzeigefunktionen im Client zu umgehen. Dann ist jedoch zu beachten, dass für die Formatwandlung (auch „Rendition“ genannt) ein entsprechend leistungsfähiger, schneller und hochverfügbarer Server bereitzustellen ist, und dass diese Lösung auch dauerhaft alle denkbaren Dateiformate unterstützen muss! Vor allem sollte sich der Anwender anschauen, wie sich eine solche Rendition-Lösung beim Schnellblättern in dicken Akten verhält und er sollte klären, wie ggf. notwendige Annotations- und Signaturfunktionen umsetzbar sind (häufig nämlich gar nicht).
Unabhängig von der verfügbaren Client-Technologie sollte abschließend noch in solchen Umgebungen, in denen der Dokumentenbestand auch außerhalb der Büroumgebung zugreifbar sein muss, geprüft werden, ob eine solche Offline-Zugriffsfunktion auch existiert. Die klassischen Konzepte zur Erstellung von CDs als selbsttragende Medien inklusive Recherche- und Anzeigefunktion sind dank erhöhter Plattenkapazitäten, die inzwischen auch in Notebooks genutzt werden können, vermehrt einfachen Exportfunktionen gewichen. Dennoch ist die Offline-Verwendbarkeit von elektronischen Dokumentenarchiven auch heute bei weitem nicht in allen Produkten selbstverständlich.
Fazit
Unsere Beratungsprojekte zeigen immer wieder: Nur mit einem auf die spezifischen Anforderungen abgestimmten Fragenkatalog sind Anwender in der Lage, eine für das Unternehmen passende Lösung zu finden. Sie sind oft erstaunt darüber, wie groß und deutlich die Unterschiede zwischen Produkten ausfallen können, die auf den ersten Blick doch nahezu identisch erschienen. Dies gilt auch, wie die ausgeführten Beispielfragen zeigen, zum „einfachen“ Thema Dokumentensuche und –anzeige. Eine Entscheidung für eine zu einem konkreten Einsatzzweck passende Lösung ist nur mit dem beschriebenen Verfahren transparent und nachvollziehbar zu gewährleisten.
Fortsetzung
In den kommenden Folgen dieser Serie zur „DMS-Auswahl“ werden folgende für eine DMS-Auswahl relevanten Aspekte vertieft dargestellt: Architekturfragen, Dokumentenverwaltung, COLD, Postkorb-/Workflowfunktionen, SAP-Integration, Aktenbearbeitung, Records Management und E-Mail-Archivierung.