Der Artikel ist zuerst in der eGovernment 16. Jahrgang Nr. 07/2016 am 20. Juni 2016 erschienen.
Ein Gespräch zwischen Volker Staupe (DMS-Projektleiter der Stadt Witten) und Ulrich Gerke (Seniorberater der Zöller & Partner GmbH)
Wer heute die p(apier)Akten ersetzen möchte, dem begegnet ein breit gefächertes Angebot an speziellen eAkten, z.B. eine Sozialamtsakte, eine Bauakte, eine eigene Personalakte, eine Ausländerakte etc. Muss das so sein?
pAkten in Verwaltungen sehen alle gleich aus. Papierdokumente werden in Papp- oder Plastikordnern in ggf. unterschiedlicher Farbgestaltung gesammelt und nach den Regeln der Behördenheftung sortiert. Dabei erfolgt die Aktenbeschriftung entweder auf dem Aktendeckel oder Aktenrand – häufig geschieht dies für jeden Aktenbestand auf gleiche Weise. Kann eine Behörde genau dieses bewährte System auch bei der eAkte anwenden oder muss beim Wechsel des Mediums jede Akte „anders“ aussehen?
Dieser Frage gehen Herr Staupe, DMS-Projektleiter bei der Stadt Witten, und Herr Gerke von der Zöller & Partner GmbH nach.
Hr. Staupe: Wir ersetzen bei der Stadt Witten sämtliche pAkten durch eAkten und sind dabei gut unterwegs. Angefangen haben wir wie viele andere Verwaltungen auch. Wir haben eine Rechtsamtsakte, eine Wohngeldakte, eine Entwässerungsakte etc. im DMS gebaut und bereitgestellt. Recht bald wurde aber klar, dass diese Methode in einer Behörde spätestens dann an Grenzen stößt, wenn der hausweite Ausbau ins Blickfeld kommt. Ein Dezernent müsste sich in acht oder neun völlig unterschiedlichen eAkten zurechtfinden, die Rechnungsprüfung bekäme dreißig bis vierzig verschiedene Aktenarten vorgelegt und diese Vielfalt muss dann auch noch weiterentwickelt und administriert werden. Unsere heutige eAkte hingegen sieht für alle Bereiche gleich aus. Wie sind Ihre Erfahrungen dazu?
Hr. Gerke: Ich kenne das Vorgehen mit der Umsetzung von verschiedenen Aktentypen in den unterschiedlichen Organisationseinheiten einer Verwaltung. Für das einzelne Amt bzw. den Fachbereich mag dieses Vorgehen anfangs ja sinnvoll sein, weil dort die individuellen Aktenstrukturen naturgemäß schneller verstanden werden, allerdings ist es unter dem strategischen Aspekt einer verwaltungsweiten DMS-Einführung und unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Schriftgutverwaltung eher hinderlich. In der Praxis hat sich gezeigt, dass eine schrittweise DMS-Einführung ein wichtiger Erfolgsfaktor für DMS-Einführungsprojekte ist und daher von uns empfohlen wird. Dabei sollte die Gesamtsicht auf das Thema eAkte allerdings nicht vergessen werden. Möglichst einheitliche eAkten-Strukturen und auch Verfahren erleichtern später die verwaltungsweite Zusammenarbeit und die Nutzeneffekte können aufgrund einheitlicher eAkten maximal ausgenutzt werden. Ich gebe Ihnen daher absolut recht, Herr Staupe. Eine Vereinheitlichung der eAkten-Struktur ist sehr zu empfehlen, wird aber nicht immer bei einer DMS-Einführung berücksichtigt.
Hr. Staupe: Das beruhigt mich, denn ich komme mir in den letzten Jahren so vor, als wenn ich auf der Autobahn fahre und alle kommen mir entgegen. Dann bin ich also kein Falschfahrer, die Fahrzeuge kommen mir aus anderen Gründen entgegen. Das kann auch damit zu tun haben, dass in vielen Köpfen der Begriff eAkte anders besetzt ist als bei uns. In Kommunalbehörden ist eine Vielzahl von Fachprogrammen im Einsatz. Man kann daher schnell auf den Gedanken kommen, dass die dazu passenden „Aufnahmestellen für Dokumente“, also die eAkten, selbst Fachprogramme sein müssen. Unsere ersten eAkten verfügten in der Tat über viele Informationen aus den jeweiligen Fachprogrammen, der Aktencharakter trat in den Hintergrund. Warum glauben Sie, dass eine Vielfalt an eAkten angeboten wird?
Hr. Gerke: Ganz klar. Die Fachverfahrensanbieter erkennen ja den eindeutigen Trend hin zur Digitalisierung. Die Fachverfahren verwalten sehr gut alle strukturierten Fachdaten, i.d.R. in deren Datenbanken. Was fehlt ist aber der Bezug zum Papier, also zu den eher unstrukturierten Daten/Dokumenten. Scannen und Ablegen von Papier ist heute fast schon „Standardtechnologie“ und nicht sehr kompliziert in ein Fachverfahren selbst zu integrieren. Für das Amt ist es vorteilhaft, wenn es Dokumente direkt mit zum Fachfall speichern und aus dem Fachverfahren dann aufrufen kann. Aber bei einem solchen Vorgehen werden viele kleine „Dokumenten-Insellösungen“ geschaffen. Der Mehrwert eines zentralen DMS wird so nie erreicht, denn einen zentralen Zugriff auf ALLE Dokumente und eAkten in einer Verwaltung wird es mit fachverfahrensindividuellen eAkten nicht geben, da ein Zugriff auf die Dokumente ausschließlich über die Fachverfahren erfolgen kann. Was bedeutet das in der Praxis? Jedes Amt mit Zugriff auf Dokumente, die über ein fachverfahrenseigenes DMS abgelegt werden, benötigen typischerweise auch den Client des jeweiligen Fachverfahrens. Das kostet nicht nur zusätzliche Fachverfahrenslizenzen, sondern ist auch technisch nicht immer einfach zu realisieren. Dann sollte man besser bei den pAkten bleiben.
Hr. Staupe: Ja, Herr Gerke, das kann ich gut nachvollziehen. An dieser Stelle möchte ich einmal nach Ihren Erfahrungen mit den Ordnungskriterien in der Welt der eAkten fragen. Ich höre sehr oft, ohne Aktenplan geht gar nichts. Praktisch bedeutet das, ein heute kaum noch gelebter Aktenplan sei unabdingbare Voraussetzung für das Einführen von eAkten. Ich meine hingegen, dass es selbstverständlich eine Ordnung geben muss und diese in einem guten DMS auch anders hergestellt werden kann, als mit den Werkzeugen aus der Papierwelt. Wir haben gut 7,5 Millionen Dateien im DMS und aktuell ca. 400 zugelassene Nutzerinnen und Nutzer und bislang ist noch jede Datei innerhalb von Sekundenbruchteilen angezeigt worden.
Hr. Gerke: Bei dem Thema Aktenplan scheiden sich in der Praxis die Geister. In meinen Projekten wird mir anfangs häufig gesagt, dass in der Verwaltung ein Aktenplan zum Einsatz kommt. Bei den Ist-Aufnahmen in den Ämtern selbst, stellt sich dann aber heraus, dass dieser Aktenplan in der Praxis eher nicht „gelebt“ wird. Ich frage mich dann immer, warum der Aktenplan dann mit einem Mal im DMS gelebt werden soll bzw. muss? Klar, Ordnungskriterien müssen sein, aber es ist ggf. nicht immer ein Aktenplan notwendig. Über das amtliche Kennzeichen findet eine Zulassungsstelle in Sekunden die entsprechenden Dokumente in einem DMS, auch ohne Aktenplan.
Selbst beim Thema „Aussonderungen“ oder „Weitergaben“ von Akten aus dem DMS hat der Aktenplan nicht unbedingt Vorteile, denn mit einem DMS können Aufbewahrungs-/Aussonderungsfristen direkt bei Anlage einer eAkte automatisch für die jeweilige eAkte mitgegeben werden. Dennoch ist es zu empfehlen, ein DMS auszuwählen, das sowohl Aktenpläne abbilden kann, als auch eine geordnete Ablage ohne Aktenplan. So kann auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einzelner Ämter besser reagiert werden.
Hr. Staupe: Es freut mich, dass wir da in guter Gesellschaft sind. Ein anderes Thema im Umgang mit der eAkte ist die, ich empfinde es zumindest so, Augenwischerei beim Scannen. TR-RESISCAN ist hier mein Stichwort. Ob diese technische Richtlinie als „technische Richtlinie“ gut geeignet ist, kann ich nicht beurteilen. In der Praxis, und da komme ich her, hilft sie gar nicht. Im Gegenteil: Sie führt zu Verunsicherung und schlechtem Gewissen. Täuscht mich da mein Gefühl?
Hr. Gerke: Ja, das sehe ich genauso wie Sie. Die TR-RESISCAN hilft nicht wirklich im Hinblick auf ein ruhiges Gewissen bei der Papiervernichtung. In Deutschland bieten Dutzende von Anbietern aus dem In- und Ausland seit über 20 Jahren Lösungen für die elektronische Ablage und Archivierung von Dokumenten an. In Tausenden von Installationen haben sich diese Lösungen bewährt und die alten analogen Verfahren abgelöst. Wesentliche Triebfedern für diese äußerst positive Entwicklung waren die innovationsfördernden regulatorischen Rahmenbedingungen. Ersetzendes Scannen ist in vielen Bereichen durch Verwendung von DMS-Lösungen und durch die dokumentierte Ordnungsmäßigkeit des Gesamtverfahrens anerkannte Best-Practice und in einigen Bereichen sogar behördlich schriftlich legitimiert (AO, GoBS seit 1995, gleichlautend GoBD seit Nov. 2014). Die TR-RESISCAN konterkariert eher die bisherigen Fortschritte bei der Ausbreitung papierloser Prozesse und damit unter anderem auch die dringendst notwendige Beschleunigung der E-Government-Projekte auf allen Ebenen der öffentlichen Hand, da Anforderungen definiert werden, die bislang nicht gefordert wurden.
Hr. Staupe: Erfreulich, dass unsere Einschätzungen übereinstimmen. Das führt mich zu einem anderen „heißen Eisen“, zum Umgang mit Urkunden. Hier höre ich immer, wer Urkunden digitalisiert, der ist zwingend auf die qualifizierte elektronische Signatur angewiesen. Schon bin ich beim ständigen „Übersignieren“ und einem beachtlichen organisatorischen und finanziellen Aufwand. Ich bevorzuge hingegen pragmatische Lösungen. Wenn ich Urkunden digitalisieren lasse (z.B. Baulasten), dann möchte ich die Digitalisate in die eAkte einfügen, um damit so arbeiten zu können, wie mit jeder andern eAkte. Um der gesetzlichen Aufbewahrungspflicht nachzukommen, können die Originalurkunden (Papierfassung) in Kartons im Keller oder auf dem Dachboden so lange lagern, bis die Aufbewahrungsfrist abgelaufen ist. Was sagen sie zu solchen Lösungen?
Hr. Gerke: Ich finde diese Lösungen absolut legitim. Häufig wird die Einführung eines DMS mit „Papiervernichtung“ gleichgesetzt. Das ist aber nicht der Fall. Im kaufmännischen Bereich ist die Papiervernichtung laut Verordnungen zulässig (siehe GoBD oder auch die Kassenverordnungen, die sich häufig auf die GoBD beziehen). Hier bewegen wir uns auf „dickem“ Eis. In allen anderen Bereichen sollte immer individuell abgewägt werden, ob das Original vernichtet werden darf und kann. Hier wird das Eis „dünner“. Bei Urkunden wäre ich mit dem Vernichten sehr vorsichtig, selbst wenn mit einer qualifizierten elektronischen Signatur das Dokument in einem DMS abgelegt wird. Vielleicht gibt es ja auch noch kulturhistorische Gründe, eine Urkunde im Original aufzubewahren. Es ist typischerweise sogar günstiger, eine Urkunde im Original aufzubewahren als mit digitalen Signaturen in einem DMS, denn hier fallen Kosten für die Signatur und ggf. Nachsignaturen sowie die Administration und Überwachung dieser Signaturen an. Der Lagerraum für die Kartonablage ist dagegen unschlagbar günstig. Daher gehört zu jedem DMS-Projekt auch die Einschätzung, wie mit welchem Papiergut nach der Digitalisierung umzugehen ist.
Hr. Staupe: Ein anderer Aspekt ist das Zusammenarbeiten in einer Behörde in Zeiten der eAkte. Wir nutzen im Hause einen Standardworkflow. Ob ein oder mehrere Dokumente oder eine ganze Akte – alles läuft über diesen Weg. In einem aktuellen Projekt verständigen sich Organisation, Personalamt, Gleichstellungsstelle, Schwerbehindertenvertretung, Personalrat und Personaldezernent über das Beteiligungsverfahren (LPVG) im Workflow. Auch hier ist die einheitliche eAkte die Basiskomponente. Was sagen Sie zum Thema Zusammenarbeit?
Hr. Gerke: Mittelfristiges bis langfristiges Ziel einer DMS-Einführung sollte immer das Thema Zusammenarbeit sein (also was heute unter Workflow verstanden wird). Hierbei werden erst die wahren Nutzeneffekte einer DMS-Lösung deutlich. Um die Komplexität solcher Lösungen zu minimieren, kann ich nur den Weg empfehlen, den Sie, Herr Staupe, mit der Stadt Witten eingeschlagen haben. Möglichst vereinheitlichen, also eine möglichst einheitliche eAktenstruktur und standardisierte Workflows. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, sich von den Papierprozessen zu lösen und die elektronischen Vorteile einer DMS-Lösung zu nutzen. Eine 1:1-Umsetzung von bestehenden Papierprozessen im DMS ist nicht zu empfehlen.
Hr. Staupe: Ich möchte noch einmal speziell die einheitliche eAkte für alle Bereiche ansprechen. In Witten wird die, wie wir sagen, eAkte Witten, in der gleichen Form in vielen verschiedenen Geschäftsbereichen eingesetzt. Wir haben die Bereiche Personal und Organisation, die Rechnungsprüfung und viele andere mehr mit der gleichen Akte ausgestattet. In der Akte landen alle Dokumente, die Antragstellende mitbringen oder die aus Fachverfahren oder Office-Anwendungen heraus erzeugt werden. Auch das allgemeine Schriftgut befindet sich in der eAkte. Davon profitieren alle, wie das Beispiel „Flüchtlinge“ zeigt:
Witten beherbergte eine Erstaufnahmeeinrichtung des Landes und nimmt, wie alle anderen Städte, Flüchtlinge auf. Dabei ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Ausländerbehörde und Sozialamt erforderlich. Da beide über die eAkte verfügen, ist der Datenaustausch einfach und problemlos möglich, die Aufnahme der Daten erfolgt beispielsweise mobil in den Einrichtungen vor Ort. Aus den Mitteilungen des Landes über die Zuweisung (PDF-Dateien) erzeugen wir automatisiert eAkten für die betroffenen Organisationsbereiche. Meinen Sie nicht auch, Herr Gerke, dass in der einheitlichen eAkte die Zukunft liegt?
Hr. Gerke: Häufig werden die Möglichkeiten von einheitlichen eAkten in einem DMS unterschätzt. In der Praxis sehe ich, dass eAkten eigentlich „unterfordert“ sind, weil in Projekten die eAkten oft als Abbild der Papierakten im DMS konfiguriert werden. Das resultiert daraus, dass das Wissen zu den Möglichkeiten von elektronischen Akten fehlt und verständlicherweise dann die bestehenden pAkten als Vorbild für die eAkten genommen werden. Hier muss ein Umdenken geschehen. Die Einführung einer eAkten-Lösung sollte als Anlass genommen werden, über die Struktur der Akte, der Aktenablage und auch die Zusammenarbeit (Stichwort: Workflow) nachzudenken und diese zu optimieren. Hilfestellungen hierzu durch Fachleute wie erfahrene eAkten-Praktiker oder Berater sind hier goldwert, denn von den jahrelangen Erfahrungen dieser Personen können Verwaltungen direkt bei der Einführung einer eAkten-Lösung profitieren und nicht erst nach den ersten ein bis n Fehlversuchen (kommt leider in der Praxis vor). Praktiker oder auch wir als Berater helfen, die Vorteile von eAkten sofort voll auszuschöpfen. Die Akte, die heute durch die Computertechnologie eigentlich immer „löchriger“ wird (weil z.B. E-Mails nicht mehr ausgedruckt und in die Papierakte abgeheftet werden), wird wieder zur verlässlichen und verbindlichen Auskunftsquelle. Mein Fazit entspricht also Ihrer Vorgehensweise, Herr Staupe: Soweit es fachlich möglich ist, macht eine einheitliche eAkte (n-Struktur) absolut Sinn. Je einheitlicher die eAkten und die Abläufe/Workflows, desto besser und nutzbringender ist der DMS-Einsatz in der Verwaltung. Das ist ja letztendlich auch das Ziel des DMS-Einsatzes in Verwaltungen.