Dieses Interview erschien zuerst in der BIT-Ausgabe Nr. 7/2015.
Papier beherrscht in den meisten Unternehmen noch die Arbeitsabläufe, zumindest jedoch die Archive. Dies obwohl die meisten Dokumente heute elektronisch eintreffen, man denke nur an die E-Mail-Flut. Es gilt jedoch als sicher, dass eine Umstellung auf digitale Prozesse für Unternehmen jeglicher Größe und Branche überlebensnotwendig sein wird. Das Megathema „Digitale Transformation“ kann daher nicht von der Galerie aus betrachtet werden, sondern erfordert von jedem Unternehmen, weitere Schritte einzuleiten. Bernhard Zöller vom Beratungsunternehmen Zöller & Partner zeigt im Gespräch mit BIT, wo Unternehmen die wichtigsten Ansätze für den digitalen Wandel finden können.
BIT: Herr Zöller, wie steht es heute noch um das größte Hindernis für digitale Abläufe, das Papier?
Bernhard Zöller: Papier ist häufig nur noch ein lästiges Überbleibsel aus alten Zeiten und die größte Bremse im Getriebe von Geschäftsprozessen. Alle „neuen“ geschäftlich relevanten Unterlagen werden bereits digital geboren, alle wesentlichen Prozesse laufen fast ausnahmslos in IT-gestützten Anwendungen. Daher muss das verbleibende Papier in die IT-Prozesse integriert werden, was nur durch Digitalisierung möglich ist. Ebenso muss das Neuerzeugen von Papier von vorneherein vermieden werden, wenn man es nachher nicht wieder aufwendig digitalisieren möchte.
BIT: Aber viele Abläufe basieren noch auf Papierdokumenten.
Zöller: Deshalb muss auch das papierbehaftete Gegenzeichnen, Unterzeichnen, Vorkontieren und Annotieren ersetzt werden durch papierlose elektronische Vorgänge. Dazu müssen sich die Menschen aber auch umgewöhnen und verstehen, dass eine Unterschrift nur eine Willenserklärung ist, deren Verfasser verlässlich bestimmt werden kann und das lässt sich bereits mit softwaregestützter Authentifizierung erreichen, wie sie seit Jahrzehnten in jeder normalen IT-Anwendung mit Benutzernamen, Passwort und Logging solcher Buchungs-, Genehmigungs- und Freigabeaktivitäten üblich ist.
BIT: Als neuralgischer Punkt werden immer noch die Authentifizierung und die Datei-Integrität bei geschäftlichen Vorgängen angesehen. Wie steht es heute um die Rechtssicherheit über elektronische Signatur?
Zöller: Bisher hatten wir über 18 Jahre nur national geltende Signaturgesetze, die wegen ihrer Komplexität aber von den meisten Unternehmen, aber auch Bürgern und Konsumenten, ignoriert wurden. Letztendlich war das auch ein wesentlicher Bremsklotz für vollständig digitale Prozesse. Mit der eIDAS-Verordnung wird es endlich ab 2016 eine wesentliche Erleichterung bei der gerichtsbelastbaren Willenserklärung geben. eIDAS steht für elektronische Authentifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im EU-Binnenmarkt. Sie regelt künftig europaweit einheitlich und wesentlich einfacher die Authentifizierung von Personen, Unternehmen und Websites. Hiervon profitieren geschäftliche Anwender ebenso wie Konsumenten oder Bürger. Diese können dann z. B. auch mit Smartphones oder über Cloud-Services rechtlich belastbare Willenserklärungen für Anträge oder Verträge abgeben, ohne die hohen Kosten der bisher zertifizierten Komponenten und Dienste.
BIT: Was hat der Gesetzgeber als Antreiber und Regulator bei der digitalen Transformation bisher versäumt und wo sehen Sie Nachholbedarf?
Zöller: Was in Deutschland mit den Anforderungen an eine digitale Transformation nicht Schritt gehalten hat, ist der Ausbau der digitalen Infrastrukturen: dazu gehören Bandbreite und moderne schlanke behördliche Dienste in den Regionen. Wir haben seit 18 Jahren ein Signaturgesetz und wir müssen feststellen, dass überbordende Bürokratie und Komplexität, nicht funktionierende oder nicht vorhandene attraktive Anwendungen dieses Thema haben scheitern lassen. Das gleiche Schicksal wird unserer festen Überzeugung nach De-Mail erleiden. Wir kennen niemanden, der es nutzt, unsere Behördenkunden beklagen sich über hohe Investitionen bei ein bis drei Mails pro Woche, die meisten sind Testmails. Verfolgt man die Nutzerzahlen und die Diskussionen, dann ist De-Mail gescheitert
BIT: Und wo sehen Sie in den Unternehmen noch Nachholbedarf?
Zöller: Aus Sicht der Unternehmen erscheint mir das größte Problem das Beharren auf alten Abläufen weil man die Handlungsoptionen durch neue Technologien nicht ausreichend kennt. Diese neuen Gestaltungsmöglichkeiten von ECM-Lösungen erlauben ein komplettes Überdenken, ob denn die bisherigen Prozessketten so überhaupt noch sinnvoll sind. Warum Rechnungsprüfung immer sequentiell durchführen, wenn man parallelisieren kann? Warum Antragsformulare immer in Papierform, die dann den aufwendigen Prozess des Scannen und Erkennen durchlaufen müssen? Man kann elektronische Antragsportale mit intelligenten Formularen nutzen und damit das teure und fehlerbehaftete Scannen und Erkennen komplett einsparen.
BIT: Wie steht es um interne Abläufe, die rechtlich abgesichert sein sollten?
Zöller: Intern geltende Willenserklärungen, wie Paraphierungen, Abzeichnungen, Freigaben, Gegenzeichnungen etc. werden allzu oft immer noch mit Stift und Papier vorgenommen. Eine systemgestützte Authentifizierung für Verbindlichkeit im Innenverhältnis und für die Mehrzahl der sonstigen rechtlich relevanten Erklärungen würde vollkommen ausreichen. Damit würde sich das Problem der unbeliebten qualifizierten Signatur bei nicht signierbaren Aktionen – z. B. dem Freigeben eines Vorgangs – automatisch erledigen. Aber dazu müsste man sich näher mit den Gestaltungsmöglichkeiten dieser neuen Technologien beschäftigen. Es wäre unsinnig, die bisherigen papierbehafteten und analogen Verfahren etwa durch 1:1-Digitalisierung zu ersetzen.
BIT: Geschäftsprozesse überschreiten häufig nahtlos die Unternehmensgrenzen, wenn z. B. der Kunde durch eine Bestellung oder Anfrage via Internet den digitalen Prozess auslöst. Nicht alle Unternehmen sind dafür gewappnet.
Zöller: Im normalen Alltag haben wir uns daran gewöhnt, dass wir auch ohne Papier Kunde werden, die Bestellhistorie einsehen können, per E-Mail, Forum oder Chat-Funktion mit unseren Lieferanten kommunizieren, Abos kündigen, etc. Es ist den heutigen Anwendern – erst Recht nicht den zukünftigen- nicht mehr vermittelbar, wieso wir bei einem Internet-Versender Produkte im Wert von mehreren Tausend Euro papierlos bestellen oder stornieren können, der Antrag auf die größere Mülltonne muss aber papierbehaftet erfolgen. Es geht nicht nur um die Frage des Komforts, sondern auch um Kosten und damit um Wirtschaftlichkeit: Die alten papierbasierten Prozesse sind durch den hohen Anteil manueller Tätigkeiten zu aufwendig, und zwar für beide Seiten – den Antragsteller und den Prozessdurchführer.
BIT: Nehmen wir an, ein Unternehmen möchte sich eine digitale Agenda erarbeiten. Was wäre der erste Schritt?
Zöller: Zunächst sollte eine Koordinierungsstelle für ECM, unternehmensweites elektronisches Content Management, geschaffen werden. Derzeit ist es fast immer so, dass sich die Projektteams eher zufällig aus den betroffenen Bereichen zusammenstellen: häufig die IT als Betreiber der technischen Lösung, manchmal direkt die Fachbereiche als Anforderer oder die Orga als Vermittler zwischen Fachbereich und IT. Es gibt erst sehr selten eine ECM-Koordinierungsstelle, die im Sinne des Gesamtunternehmens dafür sorgt, dass prozess- oder bereichsübergreifende Lösungen geschaffen werden. Die Vielfalt der Insellösungen darf nicht zunehmen. Es sollte eine ECM-Zielarchitektur erarbeitet werden, die vorhandene Produktstandards integriert. Hierfür müssen nicht notwendigerweise neue Leute eingestellt werden: es ist eher die Übertragung der Richtlinienkompetenz zum Thema ECM an ein Team, das sich typischerweise sowohl aus der Orga als auch aus der IT rekrutiert.
BIT: Worauf sollte man bei der Neukonzeption oder ECM-Einführung zudem achten?
Zöller: Bei der Neukonzeption der Prozesse sollte geprüft werden, welche Gestaltungsoptionen neue Technologien erlauben. Entscheidend für den Erfolg eines ECM-Projektes – ob nun im Rahmen einer Neueinführung oder Konsolidierung – ist, neben Funktionalität, Architektur und Kosten, vor allem die Anwenderfreundlichkeit. Viele Projekte leiden unter mangelnder Nutzerakzeptanz, weil bei Systemauswahl und Lösungskonzeption die End-User nicht berücksichtigt wurden. Die häufigsten Sünden hier sind schlechte Ergonomie und Überforderung der Anwender.
BIT: Und der nächste Schritt heißt, neue Nutzenpotenziale erschließen?
Zöller: Genau. Man sollte sich z. B. die Fragen stellen: Wie können Wikis, Blogs, Chaträume, semantische Suchen, E-Formular-Anwendungen, virtuelle Projekträume etc. Probleme lösen oder wenigstens die vorhandene Arbeit erleichtern? Hierzu genügt es manchmal zu verstehen, was andere Anwender mit solchen Technologien getan haben, man muss ja nicht immer Pionierarbeit leisten.
BIT: Was sollte man vor allem noch bedenken bzw. hinterfragen?
Zöller: Alte und neue Technologien sollte man kritisch auf ihre betriebswirtschaftliche Sinnhaftigkeit im vorgesehenen Umfeld überprüfen. Man kann vieles automatisieren, aber nicht jedes Projekt rechnet sich. Frühes Scannen, Scannen und Erkennen, statische Aktenmodelle sind Beispiele, wo sich ein Nutzen nur durch hohe Repetition einstellt. Ist der nicht gegeben, kann fast immer eine andere Variante für die Digitalisierung gewählt werden.
BIT: Vielen Dank für das Gespräch Herr Zöller.