Der folgende Artikel ist zuerst in der bit, Ausgabe 1-2018 erschienen. Gefragt waren Einschätzungen zu Markt-, Technologie- und Thementrends
Veränderungen auf dem Markt:
- Die Vielfalt an Angeboten hat sich nicht reduziert. Die immer wieder vorhergesagte (und von uns schon immer bestrittene) Konsolidierung hat nicht stattgefunden. Übernahmen wie die von Saperion durch Perceptive/Lexmark oder von Ceyoniq durch Kyocera oder von Documentum durch OpenText haben nicht zu einer Reduzierung an Systemangeboten geführt. Die wenigen Systeme, die am Markt tatsächlich nicht mehr aktiv vermarktet werden, sind zahlenmäßig durch Neueinsteiger ersetzt worden.
- Viele mittelständische Hersteller sind bezüglich ihrer Funktionalität mit den großen interna-tional operierenden Anbietern absolut konkurrenz- und unserer Meinung nach auch dauerhaft überlebensfähig.
- Umgekehrt haben manche monolithischen Alt-Lösungen, die immer noch angeboten werden, eine erschreckend geringe Funktionalität und werden zunehmend abgelöst, durch Lösungen die sehr viel weniger kosten und sehr viel mehr können.
- Der KMU-Markt boomt: Für viele kleinere und mittelständische Anwender sind die Lösungen erst in den vergangenen Jahren bezahlbar geworden; umso größer ist dort der Nachholbedarf. Dieser Trend wird sich fortsetzen, weil Anwender zunehmend mit digitalen und digitalisierten Dokumenten arbeiten, um sie in den neuen standortübergreifenden elektronischen Prozessen einbinden zu können. Dieses boomende Marktsegment wurde von den großen, internationalen Anbietern bis heute weder preislich noch architektonisch adressiert, was einer der Hauptgründe für die immer noch vorhandene Vielfalt an Angeboten auf dem Markt ist.
- Das Thema Cloud hat sich langsamer als vorhergesagt, aber trotzdem stetig, weiterentwickelt. Der Anwender muss wissen, dass eine echte Cloud-Lösung (nicht nur eine Hosting-Lösung) auf einer anderen Technologie, mit anderen und in der Regel geringeren Möglichkeiten zur Individualisierung und zur technischen Integration mit seinen Client- und Fachanwendungen, basiert. Dafür erhält der Anwender eine Lösung, um deren Betrieb er sich deutlich weniger Sorgen machen muss, was komplett neue Märkte adressiert, die für OnPremise-Lösungen nicht in Frage gekommen wären.
- Die regulatorischen Rahmenbedingungen sorgen weiterhin für einen Handlungsdruck in Richtung ordnungsgemäßer Aufbewahrung. Allen voran die EU-Datenschutzgrundverordnung, die Anwender dazu verpflichtet, personenbezogene Unterlagen (analoge und digitale Dokumente und Informationen) recherchierbar zu halten, weil sonst wesentliche Anforderungen der DSGO (wie Löschung) gar nicht umsetzbar sind. Die bisherige Ablage im Gruppenlaufwerk und E-Mail-System führt hier zu massiven Risiken bei der Umsetzung zentraler Bestimmungen der DSGVO.
- Der Feind Nummer 1 ist nicht mehr Papier, sondern Gruppenlaufwerk und die E-Mail-Systeme. Hier entsteht ein Vielfaches an geschäftlich relevanten Unterlagen, während der Papiereingang stagniert oder sogar zurückgeht. Erstaunlicherweise sind aber nicht alle Systeme dafür gerüstet: Eine vernünftige Integration in PC-Anwendungen und die vorherrschenden Mail-Clients beherrschen nicht alle Systeme.
- Neue Anwendergruppen wie Knowlegde Worker wollen intuitive Oberflächen, gerne mit nativen Tablet Apps (häufig iOS, seltener Android-Tablets), um Akten und Dokumente nicht nur mobile-Online, sondern auch Offline mitzunehmen.
- Mit dem vorigen Punkt verknüpft: Archivierung ist nicht immer das Hauptthema, sondern häufig „nur“ eine unverzichtbare Anforderung neben anderen wichtigen Anforderungen: Viele Anwender eines modernen DMS wollen, mit den dortigen Nachteilen, nicht mehr in E-Mail und Gruppenlaufwerken ablegen.
Herausragende Themen:
- Im positiven Sinne: Die Entwicklung auf dem DMS-Markt. Ohne mit Kollegen von Marktbegleitern oder Anbietern gesprochen zu haben, vermute ich, dass alle das gleiche Bild haben: Digitalisierung aller Prozesse ist ein Kernthema aller Anwender: unabhängig von Branche und Größe der Organisation.
- Im negativen Sinne: Der Mangel an qualifiziertem Personal auf Anbieterseite. Das ist die Kehrseite der stürmischen Marktentwicklung. Viele Projekte leiden nicht unter fehlender Funktionalität der Produkte, sondern am Mangel personeller Ressourcen. Das gilt sowohl für die Anbieter- aber auch die Anwenderseite.
Das größte Ärgernis:
Der eklatante Widerspruch zwischen den Lippenkenntnissen zum Bürokratieabbau und zur Digitalisierung und gleichzeitig den, viele Projekte lähmenden, tatsächlichen Rahmenbedingungen: das Signaturdebakel, welches seit 20 Jahren wirksam verhindert, dass Bürger und Konsumenten sich papierlos aber trotzdem gerichtsbelastbar authentifizieren, groteske Schildbürgereien wie TR-RESISCAN (5 Jahre alt und hat nichts gebracht) sowie TR-ESOR (noch älter, fristet ebenfalls nur ein Schattendasein, wo Anwender der öffentlichen Hand sich nicht dagegen wehren können), dazu noch Projektleichen wie De-Mail (ich kenne keinen einzigen Anwender, aber alle öffentlichen Einrichtungen MÜSSEN einen Zugang eröffnen, der derzeit und seit Jahren nur für Testmails genutzt wird). Ein weiteres Beispiel: Das besondere Anwaltspostfach beA (38 Mio. EUR Projektkosten), das die papierlose Kommunikation zwischen Anwälten und Justiz einführen sollte, ist ebenfalls gerade krachend an die Wand gefahren. Viele E-Government-Projekte bleiben wegen Überregulierung der Rahmenbedingungen im Ansatz stecken. So wird das nix mit der Digitalisierung.