Der Artikel ist zuerst erschienen in der e-Government, Ausgabe 05/2023
Die Einführung von Dokumentenmanagement-Systemen (DMS) in der öffentlichen Verwaltung ist ein wichtiger Schritt zur Digitalisierung von Arbeitsprozessen und zur Verbesserung der Verwaltungseffizienz. Gleichzeitig ist das Ziel des verwaltungsweiten Einsatzes einer DMS-Lösung jedoch auch mit Herausforderungen verbunden. Ein solches DMS-Projekt besteht häufig aus mehreren Projektetappen, weil Anforderungen aus unterschiedlichen Bereichen in Teilprojekten abgedeckt werden müssen und die Auswirkungen auf die Arbeitsweisen dauerhaft und fundamental sind. Der zweiteilige Artikel soll die bei Planung, Beschaffung und Einführung von DMS-Lösungen am häufigsten übersehenen Themen und Aufgaben aufzeigen.
Falsche Vorstellungen von einer DMS-Lösung
Eine DMS-Lösung ist nicht die „Dokumenten-Verwaltungs-Workflow-Wundertüte“. Moderne, auf Verwaltungen abgestimmte DMS-Lösungen lösen eine Fülle von Problemen mit analogen und digitalen Dokumenten wie:
- (revisionssichere) Archivierung aller Arten von Schriftgut und Dateien
- Löschfristenverwaltung und Aussonderung (an Zentralarchiv, Stadtarchiv etc.)
- Scannen von Papier: kleine/große Mengen, frühes/spätes Scannen, Altbestandsscannen
- Archivierung aus Gruppenlaufwerk, E-Mail-Client, MS Office, Fachanwendungen etc.
- Attribut- und Volltextsuche, gespeicherte Suchen, Suchabos
- Aus-/Einchecken von Dokumenten mit Versionierung
- Fallakten
- Sachakte mit Aktenplan (Vorgang > Akte > Dokument-Logik)
- Workflow I: Frühes Scannen, Attribut-basiertes Weiterleiten
- Workflow II: Einfache Freigabe-/Genehmigung außerhalb von Fachanwendungen
- Workflow III: Rechnungsworkflow / Eingangsrechnungsbearbeitung
- Workflow IV: Verfügungsworkflows
- Unterschiedliche Akten-, Workflow-Lösungen für unterschiedliche Bereiche
- Integration mit ÖV-Fachverfahren, kommunale Portale
- Berücksichtigung ÖV-spezifischer Rahmenbedingungen: BSI TR ESOR und TR RESISCAN, De-Mail und andere Stolperfallen (manchmal)
Hingegen taugen diese Lösungen aber weniger als:
- Ersatz für fehlende Fachsysteme
- „Workflow-Wunderwaffe“ für alle Arten von Abläufen
- Vollständiger Ersatz für Gruppen-/Netzlaufwerke
- 1 Standard-E-Akte für alle Bereiche
- Ersatz für Dokumentenerstellungs-Werkzeuge
- Ersatz für Collaborative Tools wie MS-Teams, Zoom, WebEx etc.
Das Projektteam sollte zu Projektbeginn Konsens erzielen, welche Funktionen einem modernen DMS- ggf. mit akzeptiertem Einricht-/Customizing-Aufwand zugemutet werden kann und was die DMS-Lösung NICHT tun soll. Die Gefahr: Manche Anbieter können schlecht „nein“ sagen, es entstehen Individualentwicklungen, die nach kurzer Zeit ggf. nicht mehr Release-gepflegt sind.
Warum überhaupt ein DMS?
Unter den o.g. Prämissen sollte sich die Verwaltung im ersten Schritt darüber im Klaren sein, wie sich eine DMS-Lösung in die IT-Landschaft einbettet und welche Aufgaben mit der Lösung erfüllt werden sollen. Gibt es heute Probleme bei der Schriftgutverwaltung in der Verwaltung und welche sind diese genau? Ist die „führende“ Papierakte ggf. nicht mehr vollständig, da es bereits mehrere Nebenablagen (Netzlaufwerke, Fachverfahren, Mail-System etc.) gibt, auf denen sich das Verwaltungspersonal selbst optimiert, um die täglichen Aufgaben zu erledigen? Sind neue Arbeitsformen (Stichwort: „HomeOffice“ oder „Mobiles Arbeiten“) vorgesehen, die einen schnellen Zugriff auf den Papierposteingang oder die Papierakte wie im Büro so nicht mehr zulassen? Gibt es regulatorische Anforderungen (z.B. beBPo, OZG-Anforderungen), die eine elektronische Ablage zwingend notwendig machen? Die Liste der Fragen ist wahrscheinlich noch länger, aber mit diesem ersten Schritt wird schon klarer, welche groben Anforderungen an eine verwaltungsweite DMS-Lösung gestellt werden müssen, ob diese Funktionen im Standard bzw. zumindest konfigurierbar umsetzbar sind und welche wesentlichen Nutzeneffekte erzielt werden sollen.
Personelle Ressourcen
Bereits in den Phasen vor der Einführung – also bereits bei Lösungskonzeption, Anbieterauswahl etc. muss ein Projektteam gebildet werden, welches fachlich sowohl die Anwenderseite als auch die IT-Seite vertreten kann. Diese Personen müssen dem Projekt dauerhaft zur Verfügung stehen (was nicht „Fulltime“ bedeutet). Das Know-how zu den verschiedenen Teilaspekten – Technik, Funktionalität, regulatorische Rahmenbedingungen und deren Interpretation und Umsetzung im Projekt entsteht in der Lernkurve des Gesamtprojektes und geht verloren, wenn die fachlich oder technisch federführenden Personen mitten im Projekt abgezogen werden. Umgekehrt müssen die dem Projekt zugeordneten Personen in der Lage – und willens – sein, sich in neue Themen einzuarbeiten.
Dazu gehören auch ein IT- und Organisationsverständnis sowie gute Kommunikationsfähigkeiten, weil man als „Team in der Mitte“ gegenüber den Fachbereichen Anforderungen abholen, ggf. qualifizieren und priorisieren, gegenüber den Regulatorik-Verantwortlichen (Compliance, Datenschutz, Revision) die geplanten regulatorischen Maßnahmen erläutern und abstimmen muss und mit der IT die Schaffung der IT-Rahmenbedingungen klären muss.
Um die fachlich-funktionalen Anforderungen zu ermitteln, ist kompetenter Input aus den projektrelevanten Dezernaten/Ämtern etc., zwingend notwendig. Daher sollten fachlich kompetente Personen aus diesen Bereichen für die Phase der Anforderungsermittlung und Abstimmung der Lösungskonzeption sowie später als „Key User“ für die Test- und Einführungsphase eingeplant werden. Das sollten Personen sein, die mit den Verfahren und Problemen im eigenen Bereich vertraut sind und Probleme lösen wollen. Es nutzt wenig, Personen zu benennen, die „verfügbar“ sind, aber fachlich-inhaltlich den eigenen Bereich nicht vertreten können.
Das Projektteam sollte während der gesamten Projektdauer durch die Verwaltungsleitung unterstützt werden. Die Verwaltungsleitung muss die sich aus dem DMS-Einsatz ergebenden neuen Ideen, ggf. geänderte Verwaltungsabläufe und eine daran angepasste Verwaltungsorganisation mittragen, damit ein verwaltungsweiter DMS-Einsatz zum Erfolg wird. Ein „macht Ihr mal“ von der Verwaltungsleitung ist immer riskant. Je nach Verwaltungsart sollten auch Querschnittsfunktionen, also Personen z.B. aus der Personal-, der Behindertenvertretung, dem Archiv, dem zentralen Posteingang etc. berücksichtigt werden.
Eine Sprache sprechen
In einem gut geplanten DMS-Projekt ist mit einer hohen Ressourcenbindung zu rechnen, da nicht wenige Personen in ein solches Projekt involviert sind. Alle im Projekt Beteiligten sollten frühzeitig Konsens zu den verwaltungsrelevanten Begrifflichkeiten herbeiführen. Jeder im Team sollte also wissen, was z.B. konkret mit einem Aktenplan, einer Sach-/Fallakte, einem Vorgang, einem ad-hoc bzw. Verfügungsworkflow oder einem regelbasierten/strukturierten Workflow gemeint ist. Fehlendes gemeinsames Verständnis führt bei Auswahl und Umsetzung eines DMS-Produktes zu Problemen und erhöhtem Klärungsbedarf und Lösungsanpassungen.
DMS-Anforderungserhebung
Sind die organisatorischen Projekt-Voraussetzungen geschaffen, geht es darum, die fachlich/funktionalen und IT-technischen Detailanforderungen für eine DMS-Lösung zu erheben. Für ein DMS gibt es keinen allgemeingültigen funktionalen Standardumfang (siehe Artikel Tipps zur Auswahl einer DMS-Lösung, daher ist es in dieser Phase entscheidend, die Besonderheiten des Funktionsumfangs einer Lösung zu identifizieren, bei denen sich a) die Angebote am Markt unterscheiden und b) die für die Lösung wichtig sind.
Typische Beispiele, die beide o.a. Merkmale erfüllen:
- Fachakte/Sachakte/Aktenplan und Einsatzfelder, wo ein Aktenplan gar keine Rolle spielt (bspw. Ordnungssystem der Fachsysteme)
- Signatur: systemgestützte Authentifizierung, fortgeschrittene (eher selten, falls überhaupt) bzw. – wenn zwingend notwendig – qualifizierte Signatur
- Verfügungen, Adhoc- unstrukturierte Workflows und deren Abgrenzung zu den Vorgangsbearbeitungsverfahren in Fachverfahren
- Integration spezifischer – nur im öffentlichen Bereich vorkommender Fachverfahren und -Portalanwendungen
- Berücksichtigung besonderer Ausstattungsmerkmale wie barrierefreier Client-Komponenten, paginierter Aktendruck, Aussonderungsverfahren für Langzeitarchivierung, Berücksichtigung – wenn unvermeidbar – von Richtlinien wie BSI TR-RESISCAN und BSI TR-ESOR bzw. Schaffung von regelkonformen Wegen, diese zu vermeiden.
Eine Reihe von Anforderungen, die im Vorprojekt häufig übersehen werden und im Implementierungsprojekt dann zu überraschenden Nachforderungen führen, sind:
- Integration in externe Anwendungen. Es gibt nicht „DIE“ Integration. Der Begriff Integration kann stehen für:
- Verknüpfung von Eingangsdokumenten (aus Scanner oder E-Mail etc.) mit Fachverfahren in den Ausprägungen frühes, gleichzeitiges und spätes Erfassen
- Verknüpfung von Ausgangsdokumenten zur automatischen Veraktung von Individual- oder Massenausgangspost
- Datenabgleich zwischen DMS und Fachverfahren entweder zur Unterstützung bei der Erfassung oder zur Befüllung von „Aktendeckel“ oder Dokumentattributen.
- Aufruf von DMS-Funktionen aus einer Fachanwendung, wie Anlegen einer Akte, Setzen und Ändern von Attributen, Ablegen und Holen von Dokumenten etc. Hierfür gibt es außer der wenig verbreiteten CMIS-Schnittstelle und außerhalb von SAP keinen Standard
- Berechtigungssteuerung zur Sicherstellung, dass die Zugriffsrestriktionen der Fachanwendungen auf die DMS-Akte durchgereicht werden. Hier bestehen häufig auch Anforderungen zur temporären Berechtigung von Personen oder Gruppen, also andere Bereiche, Revision etc. (Stichwort „ämterübergreifendes Arbeiten“) und manchmal sogar die (temporäre) Berechtigung Externer
- Modellierung und Implementierung von Dokumenten-Workflows wie beispielsweise
- beim Frühen Scannen und dem nachfolgenden Attribut-basierten Weiterleiten in die Workflow-Postkörbe entweder der Fachanwendung (wenn diese über eine Workflow-Arbeitsliste verfügt) oder in den DMS-Postkorb
- Verfügungsworkflows, sowie Genehmigungs- und Freigabe-Workflows. Das immer unter Berücksichtigung der Abgrenzung zu den vorhandenen Vorgangsbearbeitungssysteme
Die DMS-Anforderungserhebung wird z.B. von Zöller & Partner über Checklisten unterstützt, um den Prozess zu beschleunigen. Man fängt nicht „auf der grünen Wiese“ an, sondern nutzt bereits erprobte Werkzeuge. Ein weiterer Vorteil ist, dass die konkret zu lösenden Probleme benannt und priorisiert werden, um die tatsächlichen Nutzenpotentiale erkennen zu können.
Archiv und DMS-Lösungen häufig bereits im Einsatz
In öffentlichen Verwaltungen wird mittlerweile im Rahmen der Aufnahme der IT-Anforderungen festgestellt, dass es historische Altsysteme gibt, die sehr häufig auf die Einsatzfelder Registratur oder Archivierung begrenzt sind. Solche Altsysteme sollten im Rahmen einer verwaltungsweiten DMS-Lösung berücksichtigt werden, um im Team entweder die Migration zu planen oder einen bewussten Weiterbetrieb im begrenzten Einsatzfeld für eine definierte Dauer zu gewährleisten. Gegebenenfalls eignet sich aber die vorhandene DMS-Plattform bei entsprechendem Ausbau für den Einsatz als verwaltungsweite DMS-Lösung und es muss nicht zwangsläufig zu einer Neuanschaffung, sondern nur zu einer Nachbeschaffung kommen. In diesem Fall ist es ratsam, die bestehende Lösung mit den erhobenen fachlich/technischen Anforderungen abzugleichen oder in einem Markterkundungsverfahren zu überprüfen.