Zwischen technischer und kaufmännischer Welt stehen in Unternehmen vielfach mehr oder weniger hohe Zäune, wenn es um den Umgang mit Dokumenten geht. Anwender erhalten keine integrierte Sicht auf technische Dokumente und Daten (wie beispielsweise Zeichnungen und Stücklisten) sowie kaufmännische Dokumente (wie Angebote und Kalkulationen), obwohl fachlich Zusammenhänge bestehen. Die Auflösung dieses Dilemmas ist nicht trivial, da die Unterstützung technischer Prozesse und Anwendungen andere Funktionen erfordert als sie die klassischen, eher aus den kaufmännischen Bereichen stammenden DMS-Lösungen typischerweise bieten. Es gibt Aufgaben, die mit einem klassischen Dokumenten Management System (DMS) schwer abbildbar sind. Dazu gehört beispielsweise die Unterstützung des Produktentwicklungsprozesses im Maschinenbau mit Entwicklern in Mechanik und Elektronik, oftmals mit unterschiedlichen CAD-Anwendungen bei gleichzeitig großem inhaltlichem Abstimmungsbedarf von der Entwicklung bis zum Änderungsmanagement. Ähnliche, jedoch bei näherer Betrachtung stark zu differenzierende Aufgaben bestehen im Anlagenbau oder beim Anlagenbetrieb. Für alle diese Aufgabenstellungen gibt es ein eigenständiges Lösungsangebot außerhalb des klassischen DMS-Marktes, meistens fokussiert auf die Verwaltung technischer Zeichnungen sowie die Unterstützung von Konstrukteuren und Ingenieuren in ihren spezifischen Prozessen mit Produkt- und Anlagenbezug.
Begriffsdefinition: PDM, PLM, EDM
Product Data Management (PDM) Systeme sind spezialisiert auf die Verwaltung von komplexen Produktstrukturen mit Stücklisten, Mengenlisten, Varianten und Baugruppen, inklusive Schnittstellen zu ERP- und PPS-Systemen zum Austausch von Stücklisten und Materialstammdaten. Sie verwalten CAD-Zeichnungen und 3D-Modelle mit allen Referenzen und technischen Objekten. Varianten einer Zeichnung können nicht nur durch verschiedene Zeichnungen (also mehrere Dokumente) abgebildet werden, sondern auch über unterschiedliche Artikel, welche mit dem CAD-Modell verknüpft sind. Die Überarbeitung und damit verbundene Versionierung einer Zeichnung geht somit wesentlich über die dokumentbezogene Check-out-Funktionalität klassischer DMS-Lösungen hinaus.
Im Rahmen von PLM (Product Lifecycle Management) Strategien können PDM-Lösungen als Brückenfunktion zwischen CAD und ERP positioniert werden, mit übergreifender Stücklistenverwaltung und Konfigurationsmanagement. Produkte und Artikel sind häufig bereits in der ERP-Lösung definiert, viele Details finden sich jedoch in „Dokumenten“ (CAD-Modelle, Kalkulationen, Berechnungen, Mails, Bilder, Dokumentation, …).
PDM- bzw. PLM-Lösungen sind, wie der Name schon sagt, typischerweise produktfokussiert. Im Anlagenbau, in der Versorgungswirtschaft oder beim Betrieb von Anlagen stehen jedoch Anlagen im Mittelpunkt, bei Ingenieurdienstleistern (im Engineering, Anlagenbau, Hoch-/Tiefbau, …) wiederum Projekte. Der rein produktorientierte Ansatz greift somit zu kurz. Engineering Data und Document Management (EDM) steht für technische Lösungen, die nicht ausschließlich das Produkt in den Mittelpunkt stellen. Viele PDM-Produkte erfüllen mittlerweile auch diese Ansprüche, so dass EDM als Oberbegriff verwendet werden kann.
Typische EDM-Anwenderunternehmen kommen aus den Branchen Fertigungsindustrie, Anlagenbau, Ingenieurdienstleistung und Versorgungswirtschaft. Aber auch Unternehmen aus anderen Branchen, die komplexe Anlagen, Betriebsstätten, Produktionseinrichtungen oder Infrastrukturen betreiben und somit verwalten müssen, sind Zielgruppe für EDM-Lösungen, sei es zur Abbildung von Freigabeverfahren, dem Änderungsmanagement von Zeichnungen, der Verwaltung von Maschinenrichtlinien, etc. Dazu gehören Pharma- und Chemieunternehmen, Krankenhäuser, Flughäfen, Transportunternehmen, Nahrungsmittelhersteller, Telekommunikationsanbieter und weitere.
Anforderungen aus dem kaufmännischen Umfeld
EDM-/PDM-Lösungen sind überwiegend hoch spezialisierte Anwendungen, die für den Einsatz als kaufmännisches DMS mit Anforderungen wie Kreditorenrechnungsworkflow, elektronische Personalakte, Einkaufsablage, Reisekostenfreigabe oder Vertragsmanagement nur bedingt geeignet sind, sei es wegen fehlender Funktionalität bzw. Schnittstellen zu den in diesen Einsatzfeldern typischen Fachanwendungen, Anwendungskomplexität oder dem hohem Preis je Benutzer. In Konsequenz werden in Anwenderunternehmen oftmals parallel zwei Systeme betrieben, ohne integrierte Sicht auf zusammengehörige technische und kaufmännische Dokumente.
Aber nicht nur Entwicklungs- und Konstruktionsabteilungen erzeugen produkt-, projekt- oder anlagenrelevante Dokumente und Informationen. Die Abbildung vollständiger elektronischer Akten (Produktakte, Maschinenakte, Anlagenakte, Projektakte) mit sowohl technischen Zeichnungen, Stücklisten oder Statikberechnungen, Korrespondenz, Dokumentation und auch kaufmännischen Dokumenten (z.B. Bestellungen oder Rechnungen mit Anlagen-/Projektbezug) ist somit eine echte Herausforderung.
Besonderheiten im Projektgeschäft
Während in der Fertigungsbranche die produktzentrierte Sicht überwiegend das Maß der Dinge ist, steht im Anlagenbau wie auch bei anderen projektorientierten Wertschöpfungsprozessen die Anlage oder das Projekt im Mittelpunkt. Die Verwaltung von 3D-Modellen und komplexen Produktstrukturen (mit Stücklisten, Baugruppen und Varianten) ist häufig nicht erforderlich. Dafür treten andere Anforderungen in den Vordergrund:
- Unterstützung oder Steuerung von Design-Review-Prozessen mit Transmittal Management, Master Document List (MDL), Comment Review Sheets (CRS), internen und externen Freigabeverfahren
- Ablage gem. vorgegebener Strukturen (wie z.B. DIN 6779 mit ihren fachbereichsspezifischen Ausprägungen oder dem Kraftwerk-Kennzeichnungssystem KKS bzw. zukünftig dem Nachfolgesystem RDS-PP Reference Designation System for Power Plants), mit erheblichen Aufwänden für die Verwaltung und die Kontrolle des Dokumentflusses
- Aufgrund hoher Reisetätigkeit, die Erfordernis des mobilen Zugriffs, des Offline-Zugriffs oder der (womöglich sogar längerfristigen) Offline-Bearbeitung einzelner Dokumente und vollständiger umfangreicher Akten bei gleichzeitiger Bearbeitung in der Zentrale
- Austausch von Dokumenten und Zeichnungen mit Externen über virtuelle Projekträume
- Neben der ERP-Lösung auch Integration der Projektsteuerungslösung (z.B. SAP PS, Navision-Erweiterungen, MS Project)
In Summe sind diese Anforderungen mehr als herausfordernd und oftmals K.o.-Kriterien bei der Produktauswahl. Generell könnten sie jedoch sowohl mit EDM- als auch DMS-Lösungen abgedeckt werden.
Abgrenzung und Produktkategorisierung
Eine funktionale Überlappung zwischen klassischen DMS/Archiv- und EDM/PLM-Systemen gibt es zum Beispiel bezüglich sicherer Ablage, Versions- und Revisionsmanagement sowie Unterstützung von Freigabeprozessen, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. In einer DMS/Archiv-Lösung nicht standardmäßig enthalten bzw. sehr aufwändig umzusetzen sind jedoch klassische Aufgaben des Produktdatenmanagements, wie Teilemanagement, Stücklisten, Verwendungsnachweise sowie ausgereifte Schnittstellen zu CAD-Systemen mit womöglich sogar der Möglichkeit zwischen CAD-Systemen zu „übersetzen“.
Je nach Anforderung, Unternehmensgröße, Anzahl Anwender und Kompromissbereitschaft der Anwender kann der Einsatz einer integrierten technischen und kaufmännischen Dokumenten Management Lösung ausreichend sein. In anderen Fällen wird allerdings der Betrieb spezialisierter Produkte für die beiden Disziplinen favorisiert.
Basierend auf der Erfahrung aus vielen Projekten kann folgende Kategorisierung der am Markt verfügbaren Produkte vorgenommen werden:
- Spezialisierte PDM/EDM-Produkte: Typischerweise komplexe Lösungen mit anspruchsvollen Endanwenderoberflächen zur Unterstützung des vollständigen Produktentwicklungs- oder Projektprozesses. Auch wenn grundsätzlich die Möglichkeit der Unterstützung kaufmännischer Prozesse vorhanden ist, so wird aufgrund von Komplexität, Preis, fehlender ERP-Schnittstellen oder -Erfahrung oftmals parallel ein kaufmännisches DMS betrieben oder spezialisierte kaufmännische Anforderungen innerhalb der ERP-Lösung abgebildet (z.B. Kreditorenrechnungsworkflow mit dem SAP Business Workflow / NetWeaver BPM, elektronische Personalakte mit SAP Folders Management / Records Management).
- Klassische DMS/Archiv-Produkte (aus dem kaufmännischen Umfeld): Typischerweise Unterstützung der kaufmännischen Prozesse, von der „revisionssicheren“ Archivierung über Kreditorenrechnungsworkflow, Aktenbildung (z.B. Personal-, Einkaufs-, Projekt-, Vertragsakten) bis hin zu formularbasierten Genehmigungs- und Freigabeprozessen bei tiefer Integration in die ERP-Anwendungen. Üblicherweise können auch (einfache) CAD-Zeichnungen verwaltet werden, spätestens bei Anforderungen wie Verwaltung von 3D-CAD-Modellen, Stücklisten, Mengenlisten, Varianten und Baugruppen sucht man jedoch vergeblich nach Standardfunktionalität.
- Integrierte EDM/DMS-Produkte: Produkte, mit denen man sowohl PDM/EDM- als auch kaufmännische DMS-Anforderungen abdecken kann, jedoch mit Einschränkungen im Vergleich zu den spezialisierten Anwendungen und eher für mittelständische Anwender geeignet.
- Add-Ons für DMS-Produkte: Zusatzlösungen zur Zeichnungsverwaltung (inkl. abhängiger Referenzen, Baugruppen, Stücklisten, Artikelstamm, Verwendungsnachweis, etc.) in Kombination mit einer klassischen DMS/Archiv-Lösung. Die Metadaten (z.B. Zeichnungsattribute, Verknüpfungen, …) werden dabei entweder in der DMS-Datenbank oder einer eigenen Datenbank geführt.
Oftmals besteht beim Einsatz getrennter Lösungen keine tiefe Integration zwischen technisch fokussiertem EDM/PDM mit Zeichnungsverwaltung und dem kaufmännischen DMS. Zumindest die freigegebenen Zeichnungen sollten jedoch in einem Neutralformat an das DMS übergeben und dort im richtigen Kontext (z.B. Anlagenakte) lesbar für alle mit entsprechenden Berechtigungen abgelegt werden. Dies gilt auch für Anwenderunternehmen mit kleineren CAD-Anwenderzahlen, welche sich selbst (mit Hilfe des Dateisystems) organisieren oder eine Zeichnungsverwaltungskomponente der CAD-Lösung einsetzen. In der DMS-Akte können dann alle Unterlagen zusammengeführt und somit die Auskunftsfähigkeit hergestellt werden, inklusive Spezifikationen, Pflichtenhefte, Kalkulationen, weitere Dokumente aus dem Entwicklungsprozess, Zeichnungen, Testunterlagen, Protokolle, kaufmännische Unterlagen.
Gültige Unterlagen sollten für jeden (mit entsprechender Berechtigung) verfügbar sein, aber auch sicher vor fremden Blicken. So werden manchmal Zeichnungen bewusst mit niedrigerem Detailierungsgrad der breiteren Benutzerzahl zur Verfügung gestellt, damit nicht aus Versehen Unternehmensgeheimnisse in Form einer vollständigen Explosionszeichnung in die falschen Hände geraten.
Reduzierung der Vielfalt durch ECM-Säulenstrategie
Wie erläutert, kommen häufig verschiedene Produkte zur Abdeckung aller Anforderungen zum Einsatz. Die Erfahrung zeigt, dass es oftmals leider nicht bei zwei Produkten für die beiden funktionalen Themenblöcke bleibt, sondern man eine Vielzahl abteilungsoptimierter Lösungen antrifft. Betrachtet man nun nicht nur die beiden Themenblöcke EDM/PDM und DMS/Archiv, sondern das gesamte Enterprise Content Management (ECM), so kommen weitere Produktkategorien wie kollaboratives Dokumentenmanagement, Capturing, Intranet, Web Content Management, Groupware / E-Mail und weitere spezialisierte Lösungen (wie technisches Redaktionssystem, Bildarchiv, Digital Asset Management) hinzu. Die damit verbundenen Probleme und Lösungsansätze sind anschaulich in dem Artikel ECM-Strategie (siehe ECM-Strategie (Teil 2)) beschrieben.
Bezogen auf unsere Themenstellung ist im Rahmen einer Säulenstrategie dringend darauf zu achten, für die beiden funktionalen Säulen EDM/PDM und kaufmännisches DMS/Archiv wenn möglich jeweils nur eine Produktplattform auszuwählen und diese unternehmensweit als Standard zu etablieren, um eine Reduzierung der Vielfalt zu erreichen.
Wichtig bei der Auswahl ist der Werkzeug-Charakter der Lösung. Sie muss es durch geeignete Customizing- oder Entwicklungswerkzeuge erlauben, die unterschiedlichen Anforderungen der Bereiche und Prozesse individuell abzudecken.
Fazit
Es gibt weder eine Standardempfehlung noch die perfekte Lösung für alle aufgeführten Anforderungen. Die Entscheidung zwischen einer Ein- oder Zweiproduktstrategie setzt eine detaillierte Analyse der Anforderungen mit Festlegung von K.o.-Kriterien und Bewertung der Handlungsalternativen voraus.
Auch wenn die Marketingunterlagen von Produktanbietern etwas anderes suggerieren, so ist die Eignung eines einzigen Produktes für beide Themenstellungen (EDM/PDM und kaufmännisches DMS/Archiv) doch sehr kritisch zu prüfen. Bei detaillierten Produktpräsentationen (mit vorgegebener Agenda und unter Beteiligung von IT und Endanwendern) oder einer Evaluierung im Rahmen eines Proof-of-Concept, zeigen sich oftmals erhebliche Unterschiede und Schwächen. Auch auf die Validierung bei vergleichbaren Referenzen sollte nicht verzichtet werden.
Bei der Bewertung der Anforderungen für eine anschließende Systemauswahl werden in vielen Fällen, neben der Abbildung von Produktstrukturen, die Frage nach der Integrationstiefe mit den CAD-Anwendungen und der Funktionsumfang der Zeichnungsverwaltung eine zentrale Rolle spielen. Während klassische DMS-Lösungen für die Umsetzung von Anforderungen aus Anlagenbau und Projektgeschäft gut geeignet sein können, wird bei Unternehmen aus der Fertigungsindustrie fast immer ein EDM/PDM-Produkt zum Einsatz kommen.
Keinesfalls sollten mehr als zwei Produkte für die Themenblöcke EDM/PDM und DMS/Archiv zum Einsatz kommen. Diese sind, um eine Kooperation zwischen den „Welten“ zu ermöglichen, entsprechend zu integrieren.
Neben der Funktionalität und den Kosten darf die Nutzbarkeit für die Endanwender nie aus den Augen verloren werden. Zu viele Projekte leiden darunter, dass zwar rein formal die Lösungen liefern, was im Pflichtenheft steht, aber der normale Benutzer damit nicht umgehen kann, weil die Benutzerschnittstelle nicht Teil des Auswahlverfahrens war oder nicht diejenigen Funktionen bietet, die in der Praxis Teil der täglichen Arbeit sind.